Es kann seyn, dass das Recht, welches sich im Hinterhalte hielt, nicht in seiner eigenthümlichen Gestalt für das handelnde Bewusstseyn, sondern nur an sich, in der innern Schuld des Entschlusses und des Handelns vorhanden ist. Aber das sittliche Be- wusstseyn ist vollständiger, seine Schuld reiner, wenn es das Gesetz und die Macht vorher kennt, der es gegenüber tritt, sie für Gewalt und Unrecht, für eine sittliche Zufälligkeit nimmt, und wissentlich, wie Antigone, das Verbrechen begeht. Die voll- brachte That verkehrt seine Ansicht; die Vollbrin- gung spricht es selbst aus, dass was sittlich ist, wirk- lich seyn müsse; denn die Wirklichkeit des Zwecks ist der Zweck des Handelns. Das Handeln spricht gerade die Einheit der Wirklichkeit und der Substanz aus, es spricht aus, dass die Wirklichkeit dem We- sen nicht zufällig ist, sondern mit ihm im Bunde keinem gegeben wird, das nicht wahres Recht ist. Das sittliche Bewusstseyn muss sein Entgegengesetz- tes um dieser Wirklichkeit willen, und um seines Thuns willen, als die seinige, es muss seine Schuld anerkennen; weil wir leiden, anerkennen wir, dass wir gefehlt --
Diss Anerkennen drückt den aufgehobenen Zwie- spalt des sittlichen Zweckes und der Wirklichkeit, es drückt die Rückkehr zur sittlichen Gesinnung aus, die weiss, dass nichts gilt, als das Rechte. Damit aber gibt das Handelnde seinen Charakter und die Wirklichkeit seines Selbsts auf, und ist zu Grunde ge-
Es kann seyn, daſs das Recht, welches sich im Hinterhalte hielt, nicht in seiner eigenthümlichen Gestalt für das handelnde Bewuſstseyn, sondern nur an sich, in der innern Schuld des Entschlusses und des Handelns vorhanden ist. Aber das sittliche Be- wuſstseyn ist vollständiger, seine Schuld reiner, wenn es das Gesetz und die Macht vorher kennt, der es gegenüber tritt, sie für Gewalt und Unrecht, für eine sittliche Zufälligkeit nimmt, und wissentlich, wie Antigone, das Verbrechen begeht. Die voll- brachte That verkehrt seine Ansicht; die Vollbrin- gung spricht es selbst aus, daſs was sittlich ist, wirk- lich seyn müsse; denn die Wirklichkeit des Zwecks ist der Zweck des Handelns. Das Handeln spricht gerade die Einheit der Wirklichkeit und der Substanz aus, es spricht aus, daſs die Wirklichkeit dem We- sen nicht zufällig ist, sondern mit ihm im Bunde keinem gegeben wird, das nicht wahres Recht ist. Das sittliche Bewuſstseyn muſs sein Entgegengesetz- tes um dieser Wirklichkeit willen, und um seines Thuns willen, als die seinige, es muſs seine Schuld anerkennen; weil wir leiden, anerkennen wir, daſs wir gefehlt —
Diſs Anerkennen drückt den aufgehobenen Zwie- spalt des sittlichen Zweckes und der Wirklichkeit, es drückt die Rückkehr zur sittlichen Gesinnung aus, die weiſs, daſs nichts gilt, als das Rechte. Damit aber gibt das Handelnde seinen Charakter und die Wirklichkeit seines Selbsts auf, und ist zu Grunde ge-
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Es kann seyn, daſs das Recht, welches sich im
Hinterhalte hielt, nicht in seiner eigenthümlichen
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an sich, in der innern Schuld des Entschlusses und
des Handelns vorhanden ist. Aber das sittliche Be-
wuſstseyn ist vollständiger, seine Schuld reiner,
wenn es das Gesetz und die Macht vorher kennt, der
es gegenüber tritt, sie für Gewalt und Unrecht, für
eine sittliche Zufälligkeit nimmt, und wissentlich,
wie Antigone, das Verbrechen begeht. Die voll-
brachte That verkehrt seine Ansicht; die Vollbrin-
gung spricht es selbst aus, daſs was sittlich ist, wirk-
lich seyn müsse; denn die Wirklichkeit des Zwecks
ist der Zweck des Handelns. Das Handeln spricht
gerade die Einheit der Wirklichkeit und der Substanz
aus, es spricht aus, daſs die Wirklichkeit dem We-
sen nicht zufällig ist, sondern mit ihm im Bunde
keinem gegeben wird, das nicht wahres Recht ist.
Das sittliche Bewuſstseyn muſs sein Entgegengesetz-
tes um dieser Wirklichkeit willen, und um seines
Thuns willen, als die seinige, es muſs seine Schuld
anerkennen;
weil wir leiden, anerkennen wir, daſs wir gefehlt —
Diſs Anerkennen drückt den aufgehobenen Zwie-
spalt des sittlichen Zweckes und der Wirklichkeit, es
drückt die Rückkehr zur sittlichen Gesinnung aus,
die weiſs, daſs nichts gilt, als das Rechte. Damit
aber gibt das Handelnde seinen Charakter und die
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Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: System der Wissenschaft. Erster Theil: Die Phänomenologie des Geistes. Bamberg u. a., 1807, S. 412. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hegel_phaenomenologie_1807/521>, abgerufen am 22.11.2024.
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