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Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: System der Wissenschaft. Erster Theil: Die Phänomenologie des Geistes. Bamberg u. a., 1807.

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gibt; was sie so in der That im Schlafe
empfangen und gebähren, sind darum auch
Träume.

Es ist übrigens nicht schwer, zu sehen, dass
unsre Zeit eine Zeit der Geburt und des Ueber-
gangs zu einer neuen Periode ist. Der Geist
hat mit der bisherigen Welt seines Daseyns und
Vorstellens gebrochen, und steht im Begriffe,
es in die Vergangenheit hinab zuversenken, und
in der Arbeit seiner Umgestaltung. Zwar ist
er nie in Ruhe, sondern in immer fortschrei-
tender Bewegung begriffen. Aber wie beym
Kinde nach langer stiller Ernährung der erste
Athemzug jene Allmähligkeit des nur vermeh-
renden Fortgangs abbricht, -- ein qualitativer
Sprung -- und itzt das Kind gebohren ist, so
reifft der sich bildende Geist langsam und stille
der neuen Gestalt entgegen, lösst ein Theilgen
des Baues seiner vorgehenden Welt nach
dem andern auf, ihr Wanken wird nur durch
einzelne Symptome angedeutet; der Leichtsinn
wie die Langeweile, die im Bestehenden ein-
reissen, die unbestimmte Ahnung eines Unbe-
kannten sind Vorboten, dass etwas Anderes im
Anzuge ist. Diss allmählige Zerbrökeln, das
die Physiognomie des Ganzen nicht veränderte,
wird durch den Aufgang unterbrochen, der ein

gibt; was ſie ſo in der That im Schlafe
empfangen und gebähren, ſind darum auch
Träume.

Es iſt übrigens nicht ſchwer, zu ſehen, daſs
unſre Zeit eine Zeit der Geburt und des Ueber-
gangs zu einer neuen Periode iſt. Der Geiſt
hat mit der bisherigen Welt ſeines Daſeyns und
Vorſtellens gebrochen, und ſteht im Begriffe,
es in die Vergangenheit hinab zuverſenken, und
in der Arbeit ſeiner Umgeſtaltung. Zwar iſt
er nie in Ruhe, ſondern in immer fortſchrei-
tender Bewegung begriffen. Aber wie beym
Kinde nach langer ſtiller Ernährung der erſte
Athemzug jene Allmähligkeit des nur vermeh-
renden Fortgangs abbricht, — ein qualitativer
Sprung — und itzt das Kind gebohren iſt, ſo
reifft der ſich bildende Geiſt langſam und ſtille
der neuen Geſtalt entgegen, löſst ein Theilgen
des Baues ſeiner vorgehenden Welt nach
dem andern auf, ihr Wanken wird nur durch
einzelne Symptome angedeutet; der Leichtſinn
wie die Langeweile, die im Beſtehenden ein-
reiſſen, die unbeſtimmte Ahnung eines Unbe-
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[XIII/0028] gibt; was ſie ſo in der That im Schlafe empfangen und gebähren, ſind darum auch Träume. Es iſt übrigens nicht ſchwer, zu ſehen, daſs unſre Zeit eine Zeit der Geburt und des Ueber- gangs zu einer neuen Periode iſt. Der Geiſt hat mit der bisherigen Welt ſeines Daſeyns und Vorſtellens gebrochen, und ſteht im Begriffe, es in die Vergangenheit hinab zuverſenken, und in der Arbeit ſeiner Umgeſtaltung. Zwar iſt er nie in Ruhe, ſondern in immer fortſchrei- tender Bewegung begriffen. Aber wie beym Kinde nach langer ſtiller Ernährung der erſte Athemzug jene Allmähligkeit des nur vermeh- renden Fortgangs abbricht, — ein qualitativer Sprung — und itzt das Kind gebohren iſt, ſo reifft der ſich bildende Geiſt langſam und ſtille der neuen Geſtalt entgegen, löſst ein Theilgen des Baues ſeiner vorgehenden Welt nach dem andern auf, ihr Wanken wird nur durch einzelne Symptome angedeutet; der Leichtſinn wie die Langeweile, die im Beſtehenden ein- reiſſen, die unbeſtimmte Ahnung eines Unbe- kannten ſind Vorboten, daſs etwas Anderes im Anzuge iſt. Diſs allmählige Zerbrökeln, das die Phyſiognomie des Ganzen nicht veränderte, wird durch den Aufgang unterbrochen, der ein

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Zitationshilfe: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: System der Wissenschaft. Erster Theil: Die Phänomenologie des Geistes. Bamberg u. a., 1807, S. XIII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hegel_phaenomenologie_1807/28>, abgerufen am 27.04.2024.