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Heffter, August Wilhelm: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart. Berlin, 1844.

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§. 134. Völkerrecht im Zustand des Unfriedens.
Unkörperliche Sachen. 1

134. Eine besondere Streitfrage hat sich auch noch in neue-
rer Zeit in Betreff der unkörperlichen Sachen fortgesponnen, in
wie fern nämlich diese ein Gegenstand der Kriegsoccupation sind,
und von dem Sieger als sein mit rechtlicher Wirkung behandelt
werden dürfen. Die meisten Publicisten haben sich in langer Rei-
hefolge für ein solches Verfügungsrecht ausgesprochen, dergestalt,
daß ein Postliminium des ursprünglichen Forderungsberechtigten
ausgeschlossen sei und der Schuldner durch den Sieger giltig li-
berirt werde; ja man hat behauptet, daß dieses auch auf solche
Forderungen Anwendung leide, deren Schuldner sich in dritten
neutralen Staaten befinden. Zur Begründung dieser Ansicht hat
man sich hauptsächlich auf die traditionelle romanistische Lehre von
der Unbedingtheit der occupatio bellica bezogen; auf das vermeint-
lich darin begründete Confiscationsrecht, unter welchem Titel auch
in vielen früheren Kriegen die Einziehung ausstehender feindlicher
Forderungen betrieben worden ist. Man hat sich auf verschiedene
Friedensschlüsse berufen, worin dergleichen sogenannte Confiscatio-
nen bestätigt worden sind; 2 man hat sogar eine vermeintliche
Entscheidung der Amphictyonen in Beziehung auf ein Schuldver-
hältniß der Thessalier gegen Theben in Bezug genommen, wonach die
Schuldforderung der Thebaner an die Thessalier durch eine Schen-
kung aufgehoben worden sei, welche Alexander den Letzteren bei der
Zerstörung Thebens mit der Schuldverschreibung gemacht habe. 3


1 Specielle Abhandlungen über diesen Gegenstand: Chr Gottlieb Schwartz,
de iure victoris in res devictor. incorporales. Alt.
1720. v. Kamptz,
Beitr. z. St. u. Völkerr. N.9. B. W. Pfeiffer, das Recht der Kriegsero-
berung in Beziehung auf Staatscapitalien. 1823. Ferd. Carl Schweikart,
Napoleon und die Curhessischen Capitalschuldner. Königsb. 1833. Noch
andere in v. Kamptz Lit. §. 307.
2 Eine große Reihe von Friedensschlüssen s. bei Schweikart S. 74, beson-
ders von S. 82 an. S. auch Bynkershoeck, Quaest. jur. publ. 1, 7.
p. 177. v. Kamptz Beitr. a. a. O. §. 5. Not. 4. Es sind dies aber
eben ausdrückliche conventionelle Bestimmungen für einzelne Fälle, die noch
keine Regel begründen.
3 Diese Geschichte steht allein bei Quintilian Inst. or. V, 10, 111 f. Die
Publicisten haben mit Liebhaberei dieselbe besprochen. S. die Schriften bei
Schweikart S. 53 f. Das Amphictyonenurtheil darüber ist wahrscheinlich
nur eine Fabel, Saint-Croix, des anciens gouv. federat. p. 52. Fr. W.
15
§. 134. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens.
Unkörperliche Sachen. 1

134. Eine beſondere Streitfrage hat ſich auch noch in neue-
rer Zeit in Betreff der unkörperlichen Sachen fortgeſponnen, in
wie fern nämlich dieſe ein Gegenſtand der Kriegsoccupation ſind,
und von dem Sieger als ſein mit rechtlicher Wirkung behandelt
werden dürfen. Die meiſten Publiciſten haben ſich in langer Rei-
hefolge für ein ſolches Verfügungsrecht ausgeſprochen, dergeſtalt,
daß ein Poſtliminium des urſprünglichen Forderungsberechtigten
ausgeſchloſſen ſei und der Schuldner durch den Sieger giltig li-
berirt werde; ja man hat behauptet, daß dieſes auch auf ſolche
Forderungen Anwendung leide, deren Schuldner ſich in dritten
neutralen Staaten befinden. Zur Begründung dieſer Anſicht hat
man ſich hauptſächlich auf die traditionelle romaniſtiſche Lehre von
der Unbedingtheit der occupatio bellica bezogen; auf das vermeint-
lich darin begründete Confiscationsrecht, unter welchem Titel auch
in vielen früheren Kriegen die Einziehung ausſtehender feindlicher
Forderungen betrieben worden iſt. Man hat ſich auf verſchiedene
Friedensſchlüſſe berufen, worin dergleichen ſogenannte Confiscatio-
nen beſtätigt worden ſind; 2 man hat ſogar eine vermeintliche
Entſcheidung der Amphictyonen in Beziehung auf ein Schuldver-
hältniß der Theſſalier gegen Theben in Bezug genommen, wonach die
Schuldforderung der Thebaner an die Theſſalier durch eine Schen-
kung aufgehoben worden ſei, welche Alexander den Letzteren bei der
Zerſtörung Thebens mit der Schuldverſchreibung gemacht habe. 3


1 Specielle Abhandlungen über dieſen Gegenſtand: Chr Gottlieb Schwartz,
de iure victoris in res devictor. incorporales. Alt.
1720. v. Kamptz,
Beitr. z. St. u. Völkerr. N.9. B. W. Pfeiffer, das Recht der Kriegsero-
berung in Beziehung auf Staatscapitalien. 1823. Ferd. Carl Schweikart,
Napoleon und die Curheſſiſchen Capitalſchuldner. Königsb. 1833. Noch
andere in v. Kamptz Lit. §. 307.
2 Eine große Reihe von Friedensſchlüſſen ſ. bei Schweikart S. 74, beſon-
ders von S. 82 an. S. auch Bynkershoeck, Quaest. jur. publ. 1, 7.
p. 177. v. Kamptz Beitr. a. a. O. §. 5. Not. 4. Es ſind dies aber
eben ausdrückliche conventionelle Beſtimmungen für einzelne Fälle, die noch
keine Regel begründen.
3 Dieſe Geſchichte ſteht allein bei Quintilian Inst. or. V, 10, 111 f. Die
Publiciſten haben mit Liebhaberei dieſelbe beſprochen. S. die Schriften bei
Schweikart S. 53 f. Das Amphictyonenurtheil darüber iſt wahrſcheinlich
nur eine Fabel, Saint-Croix, des anciens gouv. fédérat. p. 52. Fr. W.
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[225/0249] §. 134. Voͤlkerrecht im Zuſtand des Unfriedens. Unkörperliche Sachen. 1 134. Eine beſondere Streitfrage hat ſich auch noch in neue- rer Zeit in Betreff der unkörperlichen Sachen fortgeſponnen, in wie fern nämlich dieſe ein Gegenſtand der Kriegsoccupation ſind, und von dem Sieger als ſein mit rechtlicher Wirkung behandelt werden dürfen. Die meiſten Publiciſten haben ſich in langer Rei- hefolge für ein ſolches Verfügungsrecht ausgeſprochen, dergeſtalt, daß ein Poſtliminium des urſprünglichen Forderungsberechtigten ausgeſchloſſen ſei und der Schuldner durch den Sieger giltig li- berirt werde; ja man hat behauptet, daß dieſes auch auf ſolche Forderungen Anwendung leide, deren Schuldner ſich in dritten neutralen Staaten befinden. Zur Begründung dieſer Anſicht hat man ſich hauptſächlich auf die traditionelle romaniſtiſche Lehre von der Unbedingtheit der occupatio bellica bezogen; auf das vermeint- lich darin begründete Confiscationsrecht, unter welchem Titel auch in vielen früheren Kriegen die Einziehung ausſtehender feindlicher Forderungen betrieben worden iſt. Man hat ſich auf verſchiedene Friedensſchlüſſe berufen, worin dergleichen ſogenannte Confiscatio- nen beſtätigt worden ſind; 2 man hat ſogar eine vermeintliche Entſcheidung der Amphictyonen in Beziehung auf ein Schuldver- hältniß der Theſſalier gegen Theben in Bezug genommen, wonach die Schuldforderung der Thebaner an die Theſſalier durch eine Schen- kung aufgehoben worden ſei, welche Alexander den Letzteren bei der Zerſtörung Thebens mit der Schuldverſchreibung gemacht habe. 3 1 Specielle Abhandlungen über dieſen Gegenſtand: Chr Gottlieb Schwartz, de iure victoris in res devictor. incorporales. Alt. 1720. v. Kamptz, Beitr. z. St. u. Völkerr. N.9. B. W. Pfeiffer, das Recht der Kriegsero- berung in Beziehung auf Staatscapitalien. 1823. Ferd. Carl Schweikart, Napoleon und die Curheſſiſchen Capitalſchuldner. Königsb. 1833. Noch andere in v. Kamptz Lit. §. 307. 2 Eine große Reihe von Friedensſchlüſſen ſ. bei Schweikart S. 74, beſon- ders von S. 82 an. S. auch Bynkershoeck, Quaest. jur. publ. 1, 7. p. 177. v. Kamptz Beitr. a. a. O. §. 5. Not. 4. Es ſind dies aber eben ausdrückliche conventionelle Beſtimmungen für einzelne Fälle, die noch keine Regel begründen. 3 Dieſe Geſchichte ſteht allein bei Quintilian Inst. or. V, 10, 111 f. Die Publiciſten haben mit Liebhaberei dieſelbe beſprochen. S. die Schriften bei Schweikart S. 53 f. Das Amphictyonenurtheil darüber iſt wahrſcheinlich nur eine Fabel, Saint-Croix, des anciens gouv. fédérat. p. 52. Fr. W. 15

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Zitationshilfe: Heffter, August Wilhelm: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart. Berlin, 1844, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heffter_voelkerrecht_1844/249>, abgerufen am 21.11.2024.