Heffter, August Wilhelm: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart. Berlin, 1844.Erstes Buch. §. 63. unter den weltlichen Mächten bestand keine Regel, als der Wille desStärkeren. Die neuere Staatenpraxis ist vermöge der selbständigen Abschließung der Staaten zu folgenden richtigen Ergebnissen ge- langt: I. Kein Staat liefert der Regel nach seine eigenen Unterthanen aus; 1 auch ist kein Bedürfniß dazu vorhanden, wenn er selbst die Verbrechen seiner Unterthanen, welche sie im Aus- lande begehen, nicht straflos läßt (§. 34.), es müßte denn das Verbrechen schon vor der Naturalisirung eines Frem- den zum Unterthan von ihm begangen sein. Oefterer wer- den sich die Staaten, welche ein anderes System befolgen, in einzelnen Fällen zur Auslieferung eines Unterthans be- wogen finden können, um eine schreiende Straflosigkeit aus ihrer Mitte zu beseitigen. 2 II. Ob ein Ausländer ausgeliefert werden solle, ist lediglich eine Sache der Staaten-Conventionen, außerdem aber von dem Gewissen und dem politischen Ermessen des Zufluchtstaates abhängig. Er wird ausliefern, wenn ihm oder der ganzen menschlichen Gesellschaft an der Bestrafung eines Verbre- chers gelegen sein muß und sich keine Ungerechtigkeit des Staates, von welchem die Auslieferung verlangt wird, be- fürchten läßt. Aber es giebt keine unbedingte Rechtsverpflich- tung zur Auslieferung; 3 so wenig als die Art des Verbre- chens eine Ausnahme begründet. 4 1 Ausdrücklich ist dies ausgesprochen in Preußen, Bayern, Wirtemberg, Ba- den, Großherzgth. Hessen, Oldenburg, Braunschweig, Altenburg. Indirect auch in Belgien, durch Gesetz v. 30. Dcbr. 1836. 2 So ist z. B. in Frankreich die Auslieferung eines Franzosen durch ein kaiserliches Decret vom 23. Oct. 1811 nicht völlig ausgeschlossen. Allein die neuere Staatspraxis ist dagegen. Vergl. Foelix, no. 573 s. 3 Aeltere Publicisten haben öfters eine solche Verbindlichkeit behauptet, z. B. Groot, Vattel. Aber die neuere Doctrin ist überwiegend dagegen, wie die Praxis. Die andere extreme Ansicht, daß nie ausgeliefert werden dürfe, so z. B. von Pinheiro Ferreira, hat sich bisher keinen Eingang verschaffen können. 4 Bei politischen Verbrechen hat man in neuerer Zeit eine Ausnahme be-
haupten wollen. Vergl. die Allg. Augsb. Zeitung 1824. Beil. N. 32. Dagegen das J. des debats v. 20. Febr. 1824. Gewiß wird sich hier nicht selten die Besorgniß einer inadäquaten Bestrafung geltend machen! Titt- Erſtes Buch. §. 63. unter den weltlichen Mächten beſtand keine Regel, als der Wille desStärkeren. Die neuere Staatenpraxis iſt vermöge der ſelbſtändigen Abſchließung der Staaten zu folgenden richtigen Ergebniſſen ge- langt: I. Kein Staat liefert der Regel nach ſeine eigenen Unterthanen aus; 1 auch iſt kein Bedürfniß dazu vorhanden, wenn er ſelbſt die Verbrechen ſeiner Unterthanen, welche ſie im Aus- lande begehen, nicht ſtraflos läßt (§. 34.), es müßte denn das Verbrechen ſchon vor der Naturaliſirung eines Frem- den zum Unterthan von ihm begangen ſein. Oefterer wer- den ſich die Staaten, welche ein anderes Syſtem befolgen, in einzelnen Fällen zur Auslieferung eines Unterthans be- wogen finden können, um eine ſchreiende Strafloſigkeit aus ihrer Mitte zu beſeitigen. 2 II. Ob ein Ausländer ausgeliefert werden ſolle, iſt lediglich eine Sache der Staaten-Conventionen, außerdem aber von dem Gewiſſen und dem politiſchen Ermeſſen des Zufluchtſtaates abhängig. Er wird ausliefern, wenn ihm oder der ganzen menſchlichen Geſellſchaft an der Beſtrafung eines Verbre- chers gelegen ſein muß und ſich keine Ungerechtigkeit des Staates, von welchem die Auslieferung verlangt wird, be- fürchten läßt. Aber es giebt keine unbedingte Rechtsverpflich- tung zur Auslieferung; 3 ſo wenig als die Art des Verbre- chens eine Ausnahme begründet. 4 1 Ausdrücklich iſt dies ausgeſprochen in Preußen, Bayern, Wirtemberg, Ba- den, Großherzgth. Heſſen, Oldenburg, Braunſchweig, Altenburg. Indirect auch in Belgien, durch Geſetz v. 30. Dcbr. 1836. 2 So iſt z. B. in Frankreich die Auslieferung eines Franzoſen durch ein kaiſerliches Decret vom 23. Oct. 1811 nicht völlig ausgeſchloſſen. Allein die neuere Staatspraxis iſt dagegen. Vergl. Foelix, no. 573 s. 3 Aeltere Publiciſten haben öfters eine ſolche Verbindlichkeit behauptet, z. B. Groot, Vattel. Aber die neuere Doctrin iſt überwiegend dagegen, wie die Praxis. Die andere extreme Anſicht, daß nie ausgeliefert werden dürfe, ſo z. B. von Pinheiro Ferreira, hat ſich bisher keinen Eingang verſchaffen können. 4 Bei politiſchen Verbrechen hat man in neuerer Zeit eine Ausnahme be-
haupten wollen. Vergl. die Allg. Augsb. Zeitung 1824. Beil. N. 32. Dagegen das J. des débats v. 20. Febr. 1824. Gewiß wird ſich hier nicht ſelten die Beſorgniß einer inadäquaten Beſtrafung geltend machen! Titt- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0138" n="114"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Erſtes Buch</hi>. §. 63.</fw><lb/> unter den weltlichen Mächten beſtand keine Regel, als der Wille des<lb/> Stärkeren. Die neuere Staatenpraxis iſt vermöge der ſelbſtändigen<lb/> Abſchließung der Staaten zu folgenden richtigen Ergebniſſen ge-<lb/> langt:</p><lb/> <list> <item><hi rendition="#aq">I.</hi> Kein Staat liefert der Regel nach ſeine eigenen Unterthanen<lb/> aus; <note place="foot" n="1">Ausdrücklich iſt dies ausgeſprochen in Preußen, Bayern, Wirtemberg, Ba-<lb/> den, Großherzgth. Heſſen, Oldenburg, Braunſchweig, Altenburg. Indirect<lb/> auch in Belgien, durch Geſetz v. 30. Dcbr. 1836.</note> auch iſt kein Bedürfniß dazu vorhanden, wenn er<lb/> ſelbſt die Verbrechen ſeiner Unterthanen, welche ſie im Aus-<lb/> lande begehen, nicht ſtraflos läßt (§. 34.), es müßte denn<lb/> das Verbrechen ſchon vor der Naturaliſirung eines Frem-<lb/> den zum Unterthan von ihm begangen ſein. Oefterer wer-<lb/> den ſich die Staaten, welche ein anderes Syſtem befolgen,<lb/> in einzelnen Fällen zur Auslieferung eines Unterthans be-<lb/> wogen finden können, um eine ſchreiende Strafloſigkeit aus<lb/> ihrer Mitte zu beſeitigen. <note place="foot" n="2">So iſt z. B. in Frankreich die Auslieferung eines Franzoſen durch ein<lb/> kaiſerliches Decret vom 23. Oct. 1811 nicht völlig ausgeſchloſſen. Allein<lb/> die neuere Staatspraxis iſt dagegen. Vergl. <hi rendition="#aq">Foelix, no. 573 s.</hi></note></item><lb/> <item><hi rendition="#aq">II.</hi> Ob ein Ausländer ausgeliefert werden ſolle, iſt lediglich eine<lb/> Sache der Staaten-Conventionen, außerdem aber von dem<lb/> Gewiſſen und dem politiſchen Ermeſſen des Zufluchtſtaates<lb/> abhängig. Er wird ausliefern, wenn ihm oder der ganzen<lb/> menſchlichen Geſellſchaft an der Beſtrafung eines Verbre-<lb/> chers gelegen ſein muß und ſich keine Ungerechtigkeit des<lb/> Staates, von welchem die Auslieferung verlangt wird, be-<lb/> fürchten läßt. Aber es giebt keine unbedingte Rechtsverpflich-<lb/> tung zur Auslieferung; <note place="foot" n="3">Aeltere Publiciſten haben öfters eine ſolche Verbindlichkeit behauptet, z. B.<lb/> Groot, Vattel. Aber die neuere Doctrin iſt überwiegend dagegen, wie die<lb/> Praxis. Die andere extreme Anſicht, daß nie ausgeliefert werden dürfe,<lb/> ſo z. B. von Pinheiro Ferreira, hat ſich bisher keinen Eingang verſchaffen<lb/> können.</note> ſo wenig als die Art des Verbre-<lb/> chens eine Ausnahme begründet. <note xml:id="note-0138" next="#note-0139" place="foot" n="4">Bei politiſchen Verbrechen hat man in neuerer Zeit eine Ausnahme be-<lb/> haupten wollen. Vergl. die Allg. Augsb. Zeitung 1824. Beil. N. 32.<lb/> Dagegen das <hi rendition="#aq">J. des débats</hi> v. 20. Febr. 1824. Gewiß wird ſich hier nicht<lb/> ſelten die Beſorgniß einer inadäquaten Beſtrafung geltend machen! Titt-</note></item> </list><lb/> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [114/0138]
Erſtes Buch. §. 63.
unter den weltlichen Mächten beſtand keine Regel, als der Wille des
Stärkeren. Die neuere Staatenpraxis iſt vermöge der ſelbſtändigen
Abſchließung der Staaten zu folgenden richtigen Ergebniſſen ge-
langt:
I. Kein Staat liefert der Regel nach ſeine eigenen Unterthanen
aus; 1 auch iſt kein Bedürfniß dazu vorhanden, wenn er
ſelbſt die Verbrechen ſeiner Unterthanen, welche ſie im Aus-
lande begehen, nicht ſtraflos läßt (§. 34.), es müßte denn
das Verbrechen ſchon vor der Naturaliſirung eines Frem-
den zum Unterthan von ihm begangen ſein. Oefterer wer-
den ſich die Staaten, welche ein anderes Syſtem befolgen,
in einzelnen Fällen zur Auslieferung eines Unterthans be-
wogen finden können, um eine ſchreiende Strafloſigkeit aus
ihrer Mitte zu beſeitigen. 2
II. Ob ein Ausländer ausgeliefert werden ſolle, iſt lediglich eine
Sache der Staaten-Conventionen, außerdem aber von dem
Gewiſſen und dem politiſchen Ermeſſen des Zufluchtſtaates
abhängig. Er wird ausliefern, wenn ihm oder der ganzen
menſchlichen Geſellſchaft an der Beſtrafung eines Verbre-
chers gelegen ſein muß und ſich keine Ungerechtigkeit des
Staates, von welchem die Auslieferung verlangt wird, be-
fürchten läßt. Aber es giebt keine unbedingte Rechtsverpflich-
tung zur Auslieferung; 3 ſo wenig als die Art des Verbre-
chens eine Ausnahme begründet. 4
1 Ausdrücklich iſt dies ausgeſprochen in Preußen, Bayern, Wirtemberg, Ba-
den, Großherzgth. Heſſen, Oldenburg, Braunſchweig, Altenburg. Indirect
auch in Belgien, durch Geſetz v. 30. Dcbr. 1836.
2 So iſt z. B. in Frankreich die Auslieferung eines Franzoſen durch ein
kaiſerliches Decret vom 23. Oct. 1811 nicht völlig ausgeſchloſſen. Allein
die neuere Staatspraxis iſt dagegen. Vergl. Foelix, no. 573 s.
3 Aeltere Publiciſten haben öfters eine ſolche Verbindlichkeit behauptet, z. B.
Groot, Vattel. Aber die neuere Doctrin iſt überwiegend dagegen, wie die
Praxis. Die andere extreme Anſicht, daß nie ausgeliefert werden dürfe,
ſo z. B. von Pinheiro Ferreira, hat ſich bisher keinen Eingang verſchaffen
können.
4 Bei politiſchen Verbrechen hat man in neuerer Zeit eine Ausnahme be-
haupten wollen. Vergl. die Allg. Augsb. Zeitung 1824. Beil. N. 32.
Dagegen das J. des débats v. 20. Febr. 1824. Gewiß wird ſich hier nicht
ſelten die Beſorgniß einer inadäquaten Beſtrafung geltend machen! Titt-
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