Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Heeren, Arnold H. L.: Geschichte des Europäischen Staatensystems und seiner Kolonien. Göttingen, 1809.

Bild:
<< vorherige Seite
B. 2. Gesch. d. Reformation. 1515--1555.

1. Die Reformation erhielt ihren unermeßlichen
Wirkungskreis im Allgemeinen dadurch, daß sie
ein Interesse aufregte, das nicht blos das der Regen-
ten, sondern der Völker selber war. Nie hätten ohne
dieses ihre Stürme zugleich so allgemein und so
dauernd werden können. Die Verflechtung der
Religion und der Politik war aber dabey unvermeid-
lich, weil die Angriffe ihrer Urheber nicht blos gegen
Lehren, sondern gegen eine Hierarchie gerichtet waren,
die auf das tiefste in die bestehenden Staatsverwal-
tungen und Staatsverfassungen eingriff.

Die Reformation, als unmittelbarer Angriff auf die
Herrschaft des Pabstes, war zwar gegen ein schon
erschüttertes und untergrabenes, aber doch noch immer da
stehendes Gebäude gerichtet. Untergraben, weil die Stütze,
worauf es eigentlich ruhte, die öffentliche Meinung sich än-
derte, erschüttert durch die letzten Italienischen Händel,
so wie schon früher durch die festgestellte höchste Autorität der
Concilien. Die Frage: Ob ohne Reformation päbstliche
Antorität gefallen seyn würde? -- liegt außerhalb dem Ge-
biet der Geschichte; gesetzt aber auch, sie wäre gefallen,
so hätte doch ohne sie der menschliche Geist nicht den mäch-
tigen Umschwung erhalten, den er durch sie erhielt; und
daraus entwickelten sich ihre größten, und gerade ihre
wohlthätigsten Folgen.

2. So wie die Reformation überhaupt zuerst in
Deutschland entstand und sich verbreitete, so nahm
sie auch hier zuerst einen politischen Charakter an,
indem deutsche Fürsten und Regierungen sich ihrer an-
nahmen. Die Puncte, auf welche es bey einer poli-

tischen
D 4
B. 2. Geſch. d. Reformation. 1515--1555.

1. Die Reformation erhielt ihren unermeßlichen
Wirkungskreis im Allgemeinen dadurch, daß ſie
ein Intereſſe aufregte, das nicht blos das der Regen-
ten, ſondern der Voͤlker ſelber war. Nie haͤtten ohne
dieſes ihre Stuͤrme zugleich ſo allgemein und ſo
dauernd werden koͤnnen. Die Verflechtung der
Religion und der Politik war aber dabey unvermeid-
lich, weil die Angriffe ihrer Urheber nicht blos gegen
Lehren, ſondern gegen eine Hierarchie gerichtet waren,
die auf das tiefſte in die beſtehenden Staatsverwal-
tungen und Staatsverfaſſungen eingriff.

Die Reformation, als unmittelbarer Angriff auf die
Herrſchaft des Pabſtes, war zwar gegen ein ſchon
erſchuͤttertes und untergrabenes, aber doch noch immer da
ſtehendes Gebaͤude gerichtet. Untergraben, weil die Stuͤtze,
worauf es eigentlich ruhte, die oͤffentliche Meinung ſich aͤn-
derte, erſchuͤttert durch die letzten Italieniſchen Haͤndel,
ſo wie ſchon fruͤher durch die feſtgeſtellte hoͤchſte Autoritaͤt der
Concilien. Die Frage: Ob ohne Reformation paͤbſtliche
Antoritaͤt gefallen ſeyn wuͤrde? — liegt außerhalb dem Ge-
biet der Geſchichte; geſetzt aber auch, ſie waͤre gefallen,
ſo haͤtte doch ohne ſie der menſchliche Geiſt nicht den maͤch-
tigen Umſchwung erhalten, den er durch ſie erhielt; und
daraus entwickelten ſich ihre groͤßten, und gerade ihre
wohlthaͤtigſten Folgen.

2. So wie die Reformation uͤberhaupt zuerſt in
Deutſchland entſtand und ſich verbreitete, ſo nahm
ſie auch hier zuerſt einen politiſchen Charakter an,
indem deutſche Fuͤrſten und Regierungen ſich ihrer an-
nahmen. Die Puncte, auf welche es bey einer poli-

tiſchen
D 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <pb facs="#f0093" n="55"/>
                <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">B.</hi> 2. Ge&#x017F;ch. d. Reformation. 1515--1555.</hi> </fw><lb/>
                <p>1. Die Reformation erhielt ihren unermeßlichen<lb/>
Wirkungskreis im Allgemeinen <hi rendition="#g">dadurch</hi>, daß &#x017F;ie<lb/>
ein Intere&#x017F;&#x017F;e aufregte, das nicht blos das der Regen-<lb/>
ten, &#x017F;ondern der Vo&#x0364;lker &#x017F;elber war. Nie ha&#x0364;tten ohne<lb/>
die&#x017F;es ihre Stu&#x0364;rme zugleich &#x017F;o <hi rendition="#g">allgemein</hi> und &#x017F;o<lb/><hi rendition="#g">dauernd</hi> werden ko&#x0364;nnen. Die Verflechtung der<lb/>
Religion und der Politik war aber dabey unvermeid-<lb/>
lich, weil die Angriffe ihrer Urheber nicht blos gegen<lb/>
Lehren, &#x017F;ondern gegen eine Hierarchie gerichtet waren,<lb/>
die auf das tief&#x017F;te in die be&#x017F;tehenden Staatsverwal-<lb/>
tungen und Staatsverfa&#x017F;&#x017F;ungen eingriff.</p><lb/>
                <p> <hi rendition="#et">Die Reformation, als unmittelbarer Angriff auf die<lb/>
Herr&#x017F;chaft des Pab&#x017F;tes, war zwar gegen ein &#x017F;chon<lb/>
er&#x017F;chu&#x0364;ttertes und untergrabenes, aber doch noch immer da<lb/>
&#x017F;tehendes Geba&#x0364;ude gerichtet. Untergraben, weil die Stu&#x0364;tze,<lb/>
worauf es eigentlich ruhte, die o&#x0364;ffentliche Meinung &#x017F;ich a&#x0364;n-<lb/>
derte, er&#x017F;chu&#x0364;ttert durch die letzten Italieni&#x017F;chen Ha&#x0364;ndel,<lb/>
&#x017F;o wie &#x017F;chon fru&#x0364;her durch die fe&#x017F;tge&#x017F;tellte ho&#x0364;ch&#x017F;te Autorita&#x0364;t der<lb/>
Concilien. Die Frage: Ob ohne Reformation pa&#x0364;b&#x017F;tliche<lb/>
Antorita&#x0364;t gefallen &#x017F;eyn wu&#x0364;rde? &#x2014; liegt außerhalb dem Ge-<lb/>
biet der Ge&#x017F;chichte; ge&#x017F;etzt aber auch, &#x017F;ie wa&#x0364;re gefallen,<lb/>
&#x017F;o ha&#x0364;tte doch ohne &#x017F;ie der men&#x017F;chliche Gei&#x017F;t nicht den ma&#x0364;ch-<lb/>
tigen Um&#x017F;chwung erhalten, den er <hi rendition="#g">durch</hi> &#x017F;ie erhielt; und<lb/><hi rendition="#g">daraus</hi> entwickelten &#x017F;ich ihre gro&#x0364;ßten, und gerade ihre<lb/><hi rendition="#g">wohltha&#x0364;tig&#x017F;ten</hi> Folgen.</hi> </p><lb/>
                <p>2. So wie die Reformation u&#x0364;berhaupt zuer&#x017F;t in<lb/><hi rendition="#g">Deut&#x017F;chland</hi> ent&#x017F;tand und &#x017F;ich verbreitete, &#x017F;o nahm<lb/>
&#x017F;ie auch hier zuer&#x017F;t einen politi&#x017F;chen Charakter an,<lb/>
indem deut&#x017F;che Fu&#x0364;r&#x017F;ten und Regierungen &#x017F;ich ihrer an-<lb/>
nahmen. Die Puncte, auf welche es bey einer poli-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">D 4</fw><fw place="bottom" type="catch">ti&#x017F;chen</fw><lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[55/0093] B. 2. Geſch. d. Reformation. 1515--1555. 1. Die Reformation erhielt ihren unermeßlichen Wirkungskreis im Allgemeinen dadurch, daß ſie ein Intereſſe aufregte, das nicht blos das der Regen- ten, ſondern der Voͤlker ſelber war. Nie haͤtten ohne dieſes ihre Stuͤrme zugleich ſo allgemein und ſo dauernd werden koͤnnen. Die Verflechtung der Religion und der Politik war aber dabey unvermeid- lich, weil die Angriffe ihrer Urheber nicht blos gegen Lehren, ſondern gegen eine Hierarchie gerichtet waren, die auf das tiefſte in die beſtehenden Staatsverwal- tungen und Staatsverfaſſungen eingriff. Die Reformation, als unmittelbarer Angriff auf die Herrſchaft des Pabſtes, war zwar gegen ein ſchon erſchuͤttertes und untergrabenes, aber doch noch immer da ſtehendes Gebaͤude gerichtet. Untergraben, weil die Stuͤtze, worauf es eigentlich ruhte, die oͤffentliche Meinung ſich aͤn- derte, erſchuͤttert durch die letzten Italieniſchen Haͤndel, ſo wie ſchon fruͤher durch die feſtgeſtellte hoͤchſte Autoritaͤt der Concilien. Die Frage: Ob ohne Reformation paͤbſtliche Antoritaͤt gefallen ſeyn wuͤrde? — liegt außerhalb dem Ge- biet der Geſchichte; geſetzt aber auch, ſie waͤre gefallen, ſo haͤtte doch ohne ſie der menſchliche Geiſt nicht den maͤch- tigen Umſchwung erhalten, den er durch ſie erhielt; und daraus entwickelten ſich ihre groͤßten, und gerade ihre wohlthaͤtigſten Folgen. 2. So wie die Reformation uͤberhaupt zuerſt in Deutſchland entſtand und ſich verbreitete, ſo nahm ſie auch hier zuerſt einen politiſchen Charakter an, indem deutſche Fuͤrſten und Regierungen ſich ihrer an- nahmen. Die Puncte, auf welche es bey einer poli- tiſchen D 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/heeren_staatensystem_1809
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/heeren_staatensystem_1809/93
Zitationshilfe: Heeren, Arnold H. L.: Geschichte des Europäischen Staatensystems und seiner Kolonien. Göttingen, 1809, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heeren_staatensystem_1809/93>, abgerufen am 23.11.2024.