Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Hauptmann, Gerhart: Der Apostel. Bahnwärter Thiel. Novellistische Studien. Berlin, 1892.

Bild:
<< vorherige Seite

Thiel dachte weiter nach und nun wußte er,
daß sie sich auf der Flucht befunden hatte. Es
lag außer allem Zweifel, denn weshalb hätte
sie sonst diese Blicke voll Herzensangst nach
rückwärts gesandt und sich weiter geschleppt, ob¬
gleich ihr die Füße den Dienst versagten. O
diese entsetzlichen Blicke!

Aber es war etwas, das sie mit sich trug
in Tücher gewickelt, etwas Schlaffes, Blutiges,
Bleiches, und die Art, mit der sie darauf nieder¬
blickte, erinnerte ihn an Szenen der Vergangen¬
heit.

Er dachte an eine sterbende Frau, die ihr
kaum geborenes Kind, das sie zurücklassen
mußte, unverwandt anblickte, mit einem Aus¬
druck tiefsten Schmerzes, unfaßbarer Qual, jenem
Ausdruck, den Thiel ebenso wenig vergessen
konnte, als daß er einen Vater und eine Mutter
habe.

Wo war sie hingekommen? Er wußte es
nicht; das aber trat ihm klar vor die Seele, sie
hatte sich von ihm losgesagt, ihn nicht beachtet,
sie hatte sich fortgeschleppt immer weiter und
weiter durch die stürmische, dunkle Nacht. Er
hatte sie gerufen! "Minna, Minna," und davon
war er erwacht.

Thiel dachte weiter nach und nun wußte er,
daß ſie ſich auf der Flucht befunden hatte. Es
lag außer allem Zweifel, denn weshalb hätte
ſie ſonſt dieſe Blicke voll Herzensangſt nach
rückwärts geſandt und ſich weiter geſchleppt, ob¬
gleich ihr die Füße den Dienſt verſagten. O
dieſe entſetzlichen Blicke!

Aber es war etwas, das ſie mit ſich trug
in Tücher gewickelt, etwas Schlaffes, Blutiges,
Bleiches, und die Art, mit der ſie darauf nieder¬
blickte, erinnerte ihn an Szenen der Vergangen¬
heit.

Er dachte an eine ſterbende Frau, die ihr
kaum geborenes Kind, das ſie zurücklaſſen
mußte, unverwandt anblickte, mit einem Aus¬
druck tiefſten Schmerzes, unfaßbarer Qual, jenem
Ausdruck, den Thiel ebenſo wenig vergeſſen
konnte, als daß er einen Vater und eine Mutter
habe.

Wo war ſie hingekommen? Er wußte es
nicht; das aber trat ihm klar vor die Seele, ſie
hatte ſich von ihm losgeſagt, ihn nicht beachtet,
ſie hatte ſich fortgeſchleppt immer weiter und
weiter durch die ſtürmiſche, dunkle Nacht. Er
hatte ſie gerufen! „Minna, Minna,“ und davon
war er erwacht.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0046" n="34"/>
Thiel dachte weiter nach und nun wußte er,<lb/>
daß &#x017F;ie &#x017F;ich auf der Flucht befunden hatte. Es<lb/>
lag außer allem Zweifel, denn weshalb hätte<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;on&#x017F;t die&#x017F;e Blicke voll Herzensang&#x017F;t nach<lb/>
rückwärts ge&#x017F;andt und &#x017F;ich weiter ge&#x017F;chleppt, ob¬<lb/>
gleich ihr die Füße den Dien&#x017F;t ver&#x017F;agten. O<lb/>
die&#x017F;e ent&#x017F;etzlichen Blicke!</p><lb/>
          <p>Aber es war etwas, das &#x017F;ie mit &#x017F;ich trug<lb/>
in Tücher gewickelt, etwas Schlaffes, Blutiges,<lb/>
Bleiches, und die Art, mit der &#x017F;ie darauf nieder¬<lb/>
blickte, erinnerte ihn an Szenen der Vergangen¬<lb/>
heit.</p><lb/>
          <p>Er dachte an eine &#x017F;terbende Frau, die ihr<lb/>
kaum geborenes Kind, das &#x017F;ie zurückla&#x017F;&#x017F;en<lb/>
mußte, unverwandt anblickte, mit einem Aus¬<lb/>
druck tief&#x017F;ten Schmerzes, unfaßbarer Qual, jenem<lb/>
Ausdruck, den Thiel eben&#x017F;o wenig verge&#x017F;&#x017F;en<lb/>
konnte, als daß er einen Vater und eine Mutter<lb/>
habe.</p><lb/>
          <p>Wo war &#x017F;ie hingekommen? Er wußte es<lb/>
nicht; das aber trat ihm klar vor die Seele, &#x017F;ie<lb/>
hatte &#x017F;ich von ihm losge&#x017F;agt, ihn nicht beachtet,<lb/>
&#x017F;ie hatte &#x017F;ich fortge&#x017F;chleppt immer weiter und<lb/>
weiter durch die &#x017F;türmi&#x017F;che, dunkle Nacht. Er<lb/>
hatte &#x017F;ie gerufen! &#x201E;Minna, Minna,&#x201C; und davon<lb/>
war er erwacht.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[34/0046] Thiel dachte weiter nach und nun wußte er, daß ſie ſich auf der Flucht befunden hatte. Es lag außer allem Zweifel, denn weshalb hätte ſie ſonſt dieſe Blicke voll Herzensangſt nach rückwärts geſandt und ſich weiter geſchleppt, ob¬ gleich ihr die Füße den Dienſt verſagten. O dieſe entſetzlichen Blicke! Aber es war etwas, das ſie mit ſich trug in Tücher gewickelt, etwas Schlaffes, Blutiges, Bleiches, und die Art, mit der ſie darauf nieder¬ blickte, erinnerte ihn an Szenen der Vergangen¬ heit. Er dachte an eine ſterbende Frau, die ihr kaum geborenes Kind, das ſie zurücklaſſen mußte, unverwandt anblickte, mit einem Aus¬ druck tiefſten Schmerzes, unfaßbarer Qual, jenem Ausdruck, den Thiel ebenſo wenig vergeſſen konnte, als daß er einen Vater und eine Mutter habe. Wo war ſie hingekommen? Er wußte es nicht; das aber trat ihm klar vor die Seele, ſie hatte ſich von ihm losgeſagt, ihn nicht beachtet, ſie hatte ſich fortgeſchleppt immer weiter und weiter durch die ſtürmiſche, dunkle Nacht. Er hatte ſie gerufen! „Minna, Minna,“ und davon war er erwacht.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hauptmann_bahnwaerter_1892
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hauptmann_bahnwaerter_1892/46
Zitationshilfe: Hauptmann, Gerhart: Der Apostel. Bahnwärter Thiel. Novellistische Studien. Berlin, 1892, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hauptmann_bahnwaerter_1892/46>, abgerufen am 22.11.2024.