Hauff, Wilhelm: Phantasien im Bremer Ratskeller. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 4. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 117–197. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.es gut, wenn die Seele, sonst immer nach außen gerichtet, auch einmal auf ein paar Stunden einkehrt im eigenen Gasthof ihrer Brust, sich bewirthet an der langen Table d'hote der Erinnerung und nachher gewissenhaft die Rechnung ad notam schreibt, wie Frau Hurtig dem Ritter. Der Großvater nannte solche Tage seine Schalttage; nicht daß er etwa ein Banket veranstaltete mit seinen Freunden, oder den Tag lustig und in Freuden lebte, in Saus und Braus; nein, er kehrte ein bei sich, und seine Seele schmaus'te in der Kammer, die sie seit fünfundsiebenzig Jahren kannte. Noch jetzt, da er längst im kühlen Friedhof ruht, noch jetzt kann ich es seinem holländischen Horaz ansehen, welche Stellen er an solchen Tagen gelesen; noch jetzt, als wäre es gestern geschehen, sehe ich sein großes blaues Auge sinnend auf den vergelbten Blättern seines Stammbuches weilen; und wie deutlich sehe ich, wie dieses Auge nach und nach sich füllt, wie eine Thräne in den grauen Wimpern zittert, wie der gebietende Mund sich zusammenpreßt, wie der alte Herr langsam und zögernd die Feder ergreift und "einem seiner Brüder, der geschieden," das schwarze Kreuz unter den Namen malt. Der Herr hält seinen Schalttag, pflegten die Diener uns zuzuwispern, wenn wir Enkel laut und fröhlich wie gewöhnlich die Treppe hinanstürmten; der Großvater hält seinen Schalttag, flüsterten wir uns zu und glaubten nicht anders, als er beschere sich es gut, wenn die Seele, sonst immer nach außen gerichtet, auch einmal auf ein paar Stunden einkehrt im eigenen Gasthof ihrer Brust, sich bewirthet an der langen Table d'hote der Erinnerung und nachher gewissenhaft die Rechnung ad notam schreibt, wie Frau Hurtig dem Ritter. Der Großvater nannte solche Tage seine Schalttage; nicht daß er etwa ein Banket veranstaltete mit seinen Freunden, oder den Tag lustig und in Freuden lebte, in Saus und Braus; nein, er kehrte ein bei sich, und seine Seele schmaus'te in der Kammer, die sie seit fünfundsiebenzig Jahren kannte. Noch jetzt, da er längst im kühlen Friedhof ruht, noch jetzt kann ich es seinem holländischen Horaz ansehen, welche Stellen er an solchen Tagen gelesen; noch jetzt, als wäre es gestern geschehen, sehe ich sein großes blaues Auge sinnend auf den vergelbten Blättern seines Stammbuches weilen; und wie deutlich sehe ich, wie dieses Auge nach und nach sich füllt, wie eine Thräne in den grauen Wimpern zittert, wie der gebietende Mund sich zusammenpreßt, wie der alte Herr langsam und zögernd die Feder ergreift und „einem seiner Brüder, der geschieden,“ das schwarze Kreuz unter den Namen malt. Der Herr hält seinen Schalttag, pflegten die Diener uns zuzuwispern, wenn wir Enkel laut und fröhlich wie gewöhnlich die Treppe hinanstürmten; der Großvater hält seinen Schalttag, flüsterten wir uns zu und glaubten nicht anders, als er beschere sich <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <p><pb facs="#f0009"/> es gut, wenn die Seele, sonst immer nach außen gerichtet, auch einmal auf ein paar Stunden einkehrt im eigenen Gasthof ihrer Brust, sich bewirthet an der langen Table d'hote der Erinnerung und nachher gewissenhaft die Rechnung ad notam schreibt, wie Frau Hurtig dem Ritter. Der Großvater nannte solche Tage seine Schalttage; nicht daß er etwa ein Banket veranstaltete mit seinen Freunden, oder den Tag lustig und in Freuden lebte, in Saus und Braus; nein, er kehrte ein bei sich, und seine Seele schmaus'te in der Kammer, die sie seit fünfundsiebenzig Jahren kannte. Noch jetzt, da er längst im kühlen Friedhof ruht, noch jetzt kann ich es seinem holländischen Horaz ansehen, welche Stellen er an solchen Tagen gelesen; noch jetzt, als wäre es gestern geschehen, sehe ich sein großes blaues Auge sinnend auf den vergelbten Blättern seines Stammbuches weilen; und wie deutlich sehe ich, wie dieses Auge nach und nach sich füllt, wie eine Thräne in den grauen Wimpern zittert, wie der gebietende Mund sich zusammenpreßt, wie der alte Herr langsam und zögernd die Feder ergreift und „einem seiner Brüder, der geschieden,“ das schwarze Kreuz unter den Namen malt.</p><lb/> <p>Der Herr hält seinen Schalttag, pflegten die Diener uns zuzuwispern, wenn wir Enkel laut und fröhlich wie gewöhnlich die Treppe hinanstürmten; der Großvater hält seinen Schalttag, flüsterten wir uns zu und glaubten nicht anders, als er beschere sich<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0009]
es gut, wenn die Seele, sonst immer nach außen gerichtet, auch einmal auf ein paar Stunden einkehrt im eigenen Gasthof ihrer Brust, sich bewirthet an der langen Table d'hote der Erinnerung und nachher gewissenhaft die Rechnung ad notam schreibt, wie Frau Hurtig dem Ritter. Der Großvater nannte solche Tage seine Schalttage; nicht daß er etwa ein Banket veranstaltete mit seinen Freunden, oder den Tag lustig und in Freuden lebte, in Saus und Braus; nein, er kehrte ein bei sich, und seine Seele schmaus'te in der Kammer, die sie seit fünfundsiebenzig Jahren kannte. Noch jetzt, da er längst im kühlen Friedhof ruht, noch jetzt kann ich es seinem holländischen Horaz ansehen, welche Stellen er an solchen Tagen gelesen; noch jetzt, als wäre es gestern geschehen, sehe ich sein großes blaues Auge sinnend auf den vergelbten Blättern seines Stammbuches weilen; und wie deutlich sehe ich, wie dieses Auge nach und nach sich füllt, wie eine Thräne in den grauen Wimpern zittert, wie der gebietende Mund sich zusammenpreßt, wie der alte Herr langsam und zögernd die Feder ergreift und „einem seiner Brüder, der geschieden,“ das schwarze Kreuz unter den Namen malt.
Der Herr hält seinen Schalttag, pflegten die Diener uns zuzuwispern, wenn wir Enkel laut und fröhlich wie gewöhnlich die Treppe hinanstürmten; der Großvater hält seinen Schalttag, flüsterten wir uns zu und glaubten nicht anders, als er beschere sich
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Zitationshilfe: | Hauff, Wilhelm: Phantasien im Bremer Ratskeller. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 4. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 117–197. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hauff_ratskeller_1910/9>, abgerufen am 22.07.2024. |