für ihn verloren, und da, wo das fernsehende Auge die schönste Mannigfaltigkeit von Feldern, Baum- gruppen, Flußwindungen, Dörfern und Bergumrissen, mit einem Worte, die tausend Einzelnheiten einer belebten Landschaft erblickt, sieht er nur ein verwor- renes chaotisches Nebelbild.
Ein Kurzsichtiger, der im achtzehnten Jahre zum ersten mal eine herrliche Gegend durch eine Brille sah, weinte Thränen der Rührung; nie hatte er sich die Natur so reizend vorgestellt; es war ihm wie die plötzliche Offenbarung einer schöneren Welt, als durch das einfache Vorhalten der concav geschliffenen Gläser, der Schleier von seinen Augen gehoben wurde.
Gewiß machen die vielen Unannehmlichkeiten, welche die Kurzsichtigkeit im täglichen Verkehr mit sich führt, sie zu einem weit größern Uebel, als wofür man sie gewöhnlich hält. Sie verursacht ein unsicheres Auftreten; das Spiel der Physiognomieen und der Geberden geht uns dadurch verloren; sie erschwert das Studium der Kunst oder macht es ganz unmöglich; sie ist Schuld, daß wir oft ganz un- schuldig gegen die Höflichkeit verstoßen.
Der Gebrauch der Gläser hilft auf die Dauer in dieser Ausdehnung nicht, denn es ist durchaus nicht rathsam, sie so stark zu wählen, daß sie voll- kommen alle Unannehmlichkeiten der Kurzsichtigkeit beseitigen, da man sonst ihre Schärfe immer steigern
fuͤr ihn verloren, und da, wo das fernſehende Auge die ſchoͤnſte Mannigfaltigkeit von Feldern, Baum- gruppen, Flußwindungen, Doͤrfern und Bergumriſſen, mit einem Worte, die tauſend Einzelnheiten einer belebten Landſchaft erblickt, ſieht er nur ein verwor- renes chaotiſches Nebelbild.
Ein Kurzſichtiger, der im achtzehnten Jahre zum erſten mal eine herrliche Gegend durch eine Brille ſah, weinte Thraͤnen der Ruͤhrung; nie hatte er ſich die Natur ſo reizend vorgeſtellt; es war ihm wie die ploͤtzliche Offenbarung einer ſchoͤneren Welt, als durch das einfache Vorhalten der concav geſchliffenen Glaͤſer, der Schleier von ſeinen Augen gehoben wurde.
Gewiß machen die vielen Unannehmlichkeiten, welche die Kurzſichtigkeit im taͤglichen Verkehr mit ſich führt, ſie zu einem weit groͤßern Uebel, als wofuͤr man ſie gewoͤhnlich haͤlt. Sie verurſacht ein unſicheres Auftreten; das Spiel der Phyſiognomieen und der Geberden geht uns dadurch verloren; ſie erſchwert das Studium der Kunſt oder macht es ganz unmoͤglich; ſie iſt Schuld, daß wir oft ganz un- ſchuldig gegen die Hoͤflichkeit verſtoßen.
Der Gebrauch der Glaͤſer hilft auf die Dauer in dieſer Ausdehnung nicht, denn es iſt durchaus nicht rathſam, ſie ſo ſtark zu waͤhlen, daß ſie voll- kommen alle Unannehmlichkeiten der Kurzſichtigkeit beſeitigen, da man ſonſt ihre Schaͤrfe immer ſteigern
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fuͤr ihn verloren, und da, wo das fernſehende Auge
die ſchoͤnſte Mannigfaltigkeit von Feldern, Baum-
gruppen, Flußwindungen, Doͤrfern und Bergumriſſen,
mit einem Worte, die tauſend Einzelnheiten einer
belebten Landſchaft erblickt, ſieht er nur ein verwor-
renes chaotiſches Nebelbild.
Ein Kurzſichtiger, der im achtzehnten Jahre zum
erſten mal eine herrliche Gegend durch eine Brille
ſah, weinte Thraͤnen der Ruͤhrung; nie hatte er ſich
die Natur ſo reizend vorgeſtellt; es war ihm wie
die ploͤtzliche Offenbarung einer ſchoͤneren Welt, als
durch das einfache Vorhalten der concav geſchliffenen
Glaͤſer, der Schleier von ſeinen Augen gehoben wurde.
Gewiß machen die vielen Unannehmlichkeiten,
welche die Kurzſichtigkeit im taͤglichen Verkehr mit
ſich führt, ſie zu einem weit groͤßern Uebel, als
wofuͤr man ſie gewoͤhnlich haͤlt. Sie verurſacht ein
unſicheres Auftreten; das Spiel der Phyſiognomieen
und der Geberden geht uns dadurch verloren; ſie
erſchwert das Studium der Kunſt oder macht es ganz
unmoͤglich; ſie iſt Schuld, daß wir oft ganz un-
ſchuldig gegen die Hoͤflichkeit verſtoßen.
Der Gebrauch der Glaͤſer hilft auf die Dauer
in dieſer Ausdehnung nicht, denn es iſt durchaus
nicht rathſam, ſie ſo ſtark zu waͤhlen, daß ſie voll-
kommen alle Unannehmlichkeiten der Kurzſichtigkeit
beſeitigen, da man ſonſt ihre Schaͤrfe immer ſteigern
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Hartwig, Georg Ludwig: Die physische Erziehung der Kinder. Düsseldorf, 1847, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hartwig_erziehung_1847/147>, abgerufen am 03.07.2024.
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