Hartmann, Moritz: Das Schloß im Gebirge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 11. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [221]–262. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.stehen, und sie tanzte so schön, daß sie immer einige Sous zusammenbrachte, genug, um sie und mich zu ernähren. Indessen -- Sie kennen ja das Leben der Pariser Savoyardenkinder -- wozu soll ich Sie mit einer langen Beschreibung langweilen? Wir schliefen a la belle etoile, wir aßen oder wir aßen auch nicht ein Stück trocknen Brodes, und so verging eine schöne Zeit, und wir wuchsen trotz allem Elend rüstig darauf los. Eines Tages, während eines heftigen Schneegestöbers, suchte ich unter der Einfahrt eines großen Hauses Schutz, und da das schlechte Wetter nicht aufhören wollte, legte ich mich in einen Winkel und entschlief. Es war schon später und dunkler Abend, als ich mich sanft geweckt fühlte und eine Frau mit freundlichem, lächelndem Gesichte vor mir stehen sah. Sie lud mich ein, ihr zu folgen, was ich gerne that, da ich auf ein gutes Nachtessen hoffte. Sie ging voran, ich folgte, bis sie nach einer ziemlich langen Wanderung in der Rue Pepiniere eine Hausglocke zog. Der Portier öffnete und empfing die Dame mit vieler Unterthänigkeit. Die Frau Gräfin, sagte er lächelnd, haben eine gute Jagd gehabt. Sie antwortete nicht und führte mich drei Treppen hinauf in ein großes Zimmer, wo unter dem Vorsitz eines ältern Herrn an zehn Knaben um einen Tisch saßen und mit Appetit ein einfaches Nachtessen verzehrten. Mit Erstaunen erkannte ich unter den Knaben mehrere als Landsleute und Collegen, die noch vor Kurzem, wie ich, die stehen, und sie tanzte so schön, daß sie immer einige Sous zusammenbrachte, genug, um sie und mich zu ernähren. Indessen — Sie kennen ja das Leben der Pariser Savoyardenkinder — wozu soll ich Sie mit einer langen Beschreibung langweilen? Wir schliefen à la belle étoile, wir aßen oder wir aßen auch nicht ein Stück trocknen Brodes, und so verging eine schöne Zeit, und wir wuchsen trotz allem Elend rüstig darauf los. Eines Tages, während eines heftigen Schneegestöbers, suchte ich unter der Einfahrt eines großen Hauses Schutz, und da das schlechte Wetter nicht aufhören wollte, legte ich mich in einen Winkel und entschlief. Es war schon später und dunkler Abend, als ich mich sanft geweckt fühlte und eine Frau mit freundlichem, lächelndem Gesichte vor mir stehen sah. Sie lud mich ein, ihr zu folgen, was ich gerne that, da ich auf ein gutes Nachtessen hoffte. Sie ging voran, ich folgte, bis sie nach einer ziemlich langen Wanderung in der Rue Pepinière eine Hausglocke zog. Der Portier öffnete und empfing die Dame mit vieler Unterthänigkeit. Die Frau Gräfin, sagte er lächelnd, haben eine gute Jagd gehabt. Sie antwortete nicht und führte mich drei Treppen hinauf in ein großes Zimmer, wo unter dem Vorsitz eines ältern Herrn an zehn Knaben um einen Tisch saßen und mit Appetit ein einfaches Nachtessen verzehrten. Mit Erstaunen erkannte ich unter den Knaben mehrere als Landsleute und Collegen, die noch vor Kurzem, wie ich, die <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="0"> <p><pb facs="#f0026"/> stehen, und sie tanzte so schön, daß sie immer einige Sous zusammenbrachte, genug, um sie und mich zu ernähren. Indessen — Sie kennen ja das Leben der Pariser Savoyardenkinder — wozu soll ich Sie mit einer langen Beschreibung langweilen? Wir schliefen à la belle étoile, wir aßen oder wir aßen auch nicht ein Stück trocknen Brodes, und so verging eine schöne Zeit, und wir wuchsen trotz allem Elend rüstig darauf los. Eines Tages, während eines heftigen Schneegestöbers, suchte ich unter der Einfahrt eines großen Hauses Schutz, und da das schlechte Wetter nicht aufhören wollte, legte ich mich in einen Winkel und entschlief. Es war schon später und dunkler Abend, als ich mich sanft geweckt fühlte und eine Frau mit freundlichem, lächelndem Gesichte vor mir stehen sah. Sie lud mich ein, ihr zu folgen, was ich gerne that, da ich auf ein gutes Nachtessen hoffte. Sie ging voran, ich folgte, bis sie nach einer ziemlich langen Wanderung in der Rue Pepinière eine Hausglocke zog. Der Portier öffnete und empfing die Dame mit vieler Unterthänigkeit. Die Frau Gräfin, sagte er lächelnd, haben eine gute Jagd gehabt. Sie antwortete nicht und führte mich drei Treppen hinauf in ein großes Zimmer, wo unter dem Vorsitz eines ältern Herrn an zehn Knaben um einen Tisch saßen und mit Appetit ein einfaches Nachtessen verzehrten. Mit Erstaunen erkannte ich unter den Knaben mehrere als Landsleute und Collegen, die noch vor Kurzem, wie ich, die<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0026]
stehen, und sie tanzte so schön, daß sie immer einige Sous zusammenbrachte, genug, um sie und mich zu ernähren. Indessen — Sie kennen ja das Leben der Pariser Savoyardenkinder — wozu soll ich Sie mit einer langen Beschreibung langweilen? Wir schliefen à la belle étoile, wir aßen oder wir aßen auch nicht ein Stück trocknen Brodes, und so verging eine schöne Zeit, und wir wuchsen trotz allem Elend rüstig darauf los. Eines Tages, während eines heftigen Schneegestöbers, suchte ich unter der Einfahrt eines großen Hauses Schutz, und da das schlechte Wetter nicht aufhören wollte, legte ich mich in einen Winkel und entschlief. Es war schon später und dunkler Abend, als ich mich sanft geweckt fühlte und eine Frau mit freundlichem, lächelndem Gesichte vor mir stehen sah. Sie lud mich ein, ihr zu folgen, was ich gerne that, da ich auf ein gutes Nachtessen hoffte. Sie ging voran, ich folgte, bis sie nach einer ziemlich langen Wanderung in der Rue Pepinière eine Hausglocke zog. Der Portier öffnete und empfing die Dame mit vieler Unterthänigkeit. Die Frau Gräfin, sagte er lächelnd, haben eine gute Jagd gehabt. Sie antwortete nicht und führte mich drei Treppen hinauf in ein großes Zimmer, wo unter dem Vorsitz eines ältern Herrn an zehn Knaben um einen Tisch saßen und mit Appetit ein einfaches Nachtessen verzehrten. Mit Erstaunen erkannte ich unter den Knaben mehrere als Landsleute und Collegen, die noch vor Kurzem, wie ich, die
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Zitationshilfe: | Hartmann, Moritz: Das Schloß im Gebirge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 11. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [221]–262. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hartmann_gebirge_1910/26>, abgerufen am 16.07.2024. |