Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Hanna, Gertrud: Die Bedeutung des Frauenwahlrechts für die Arbeiterinnen. In: Frauenwahlrecht! Hrsg. zum Zweiten Sozialdemokratischen Frauentag von Clara Zetkin. 12. Mai 1912, S. 12–14.

Bild:
<< vorherige Seite

Frauenwahlrecht!
hinlänglich erscheinen und den Gedanken aufkommen lassen,
als könne er die überaus hohe Säuglingssterblichkeit in der
unbemittelten Bevölkerung beträchtlich herabsetzen?

Bei Fragen, die das Leben des Weibes besonders berühren,
ist der Mann auch beim besten Willen nicht immer imstande,
richtig urteilen und zweckentsprechend entscheiden zu können.
Das ist sogar von der deutschen Gesetzgebung bereits an-
erkannt worden. Sie hat für die Durchführung der Kranken-
versicherung die Mitarbeit der weiblichen Versicherten an-
erkannt. Von den Landkrankenkassen abgesehen, die durch
die Reichsversiche-
rungsordnung an
die Stelle der Ge-
meindekrankenkas-
sen getreten sind,
besitzen die Frauen
das aktive und pas-
sive Wahlrecht zu
den Krankenkassen.
Die Ausdehnung
dieses Rechtes auch
auf andere Versiche-
rungszweige war
nach der Begrün-
dung der Regierung
zur Reichsversiche-
rungsordnung be-
absichtigt. Leider ist
die löbliche Absicht
aber im Gesetz nicht
zur Ausführung ge-
langt.

Das Jnteresse
der besitzlosen weib-
lichen Bevölkerung
an der Gestaltung
der Gesetzgebung
erhöht sich in dem
Maße, in dem die
Frauenarbeit an
Umfang gewinnt.
Von Jahr zu Jahr
vermehrt sich die
Zahl der erwerbs-
tätigen Frauen und
Mädchen. Sie hat
seit 1882 um über
50 Prozent zuge-
nommen, während
die weibliche Be-
völkerung nur um
etwas über 30 Proz.
gestiegen ist. Unter
den weiblichen Er-
werbstätigen aber
ist nachweislich auch
die Zahl der ver-
heirateten Frauen
ganz bedeutend gewachsen. Nahezu drei Millionen von ihnen
- außer den Verwitweten und Geschiedenen - weist die Be-
rufszählung von 1907 auf.

Ein großer Teil dieser Frauen seufzt unter doppelter Last.
Neben der Erwerbsarbeit liegt ihnen noch die Hausarbeit ob.
Für sie alle täte es bitter not, daß die Arbeiterschutzbestim-
mungen erweitert würden, so namentlich durch die Einführung
des Achtstundentags. Das ist um so wichtiger, als es die
kapitalistische Ausbeutung den erwerbstätigen verheirateten
Frauen nahezu unmöglich macht, sich der Pflege und Erziehung
der Kinder zu widmen. Diese geht mehr und mehr an öffent-
liche Einrichtungen
über, sie wird in immer größerem
Umfang zu einer staatlichen oder kommunalen Angelegenheit.
Jn dem Maße, wie die Zahl der verheirateten Arbeiterinnen[Spaltenumbruch] steigt, wird die Ansicht an Boden gewinnen, daß die Gesell-
schaft durch geeignete Einrichtungen für die Erziehung sorgen
muß. Was heute in dieser Art vorhanden ist, trägt die Brand-
male der kapitalistischen Ordnung. Die allerwenigsten öffent-
lichen Erziehungsinstitute dienen nur dem Zwecke, Menschen
zu bilden. Fast alle verfolgen unmittelbar oder mittelbar,
bewußt oder unbewußt das Ziel, die Ausbeutung oder Herr-
schaft der besitzenden Klassen aufrechtzuerhalten. So ist das
Mißtrauen vollkommen begreiflich und gerechtfertigt, das im
allgemeinen und bei den Proletarierinnen ganz besonders da-
gegen besteht, den
öffentlichen Anstal-
ten einen großen
Teil der Erziehung
zu übertragen, die
heute noch vorwie-
gend den Händen
der Mutter über-
lassen ist. Dieser
Stand der Dinge
läßt erkennen, wie
berechtigt es ist, daß
die Frau als Wäh-
lerin und als Er-
wählte mitenschei-
det über die Gesetze
und Einrichtun-
gen, die dem Schul- und Er-
ziehungswesen

gelten, daß sie mit-
wirkt in den Körper-
schaften, die über
Schul- und Erzie-
hungsfragen ent-
scheiden. Und ge-
rade für die Frau
des arbeitenden
Volkes besteht als
Mutter ein zwin-
gendes Jnteresse,
nach dem Wahlrecht
zu trachten, als nach
dem Mittel dazu,
in dem gezeigten
Sinne die Entwick-
lung ihrer Kinder
zu fördern.

Wenn die Frau
der besitzenden Klas-
sen ihren Nachwuchs
fremden Leuten zur
Wartung, Pflege
und zur Erziehung
übergibt, so tut sie
das freiwillig, und
es bleibt ihr auch
in hohem Maße die
Möglichkeit zur persönlichen Einwirkung darauf. Die Per-
sonen oder Anstalten, denen sie ihr Kind anvertraut, wählt
sie selber, und diese sind außerdem wirtschaftlich von ihr ab-
hängig. Wie anders liegen die Verhältnisse für die Prole-
tarierin, die im Hause oder außerhalb desselben den ganzen
Tag über erwerbstätig sein muß und gezwungen ist, ihr Kind
fremden Leuten und Jnstitutionen zu überlassen! Jhre Ein-
wirkung auf Pflege und Erziehung ist gering, ja gleich Null.
Durch das Wahlrecht könnte sie ihren Einfluß geltend machen,
daß das Erziehungs- und Unterrichtswesen für die Kinder der
besitzlosen Bevölkerung nicht mehr wie heute Mittel zum Zweck
der herrschenden Klassen bleibt, sondern darauf gerichtet wird,
dem heranwachsenden Geschlecht an Leib und Seele eine ge-
sunde Entwicklung zu verbürgen.

Frauenwahlrecht!
hinlänglich erscheinen und den Gedanken aufkommen lassen,
als könne er die überaus hohe Säuglingssterblichkeit in der
unbemittelten Bevölkerung beträchtlich herabsetzen?

Bei Fragen, die das Leben des Weibes besonders berühren,
ist der Mann auch beim besten Willen nicht immer imstande,
richtig urteilen und zweckentsprechend entscheiden zu können.
Das ist sogar von der deutschen Gesetzgebung bereits an-
erkannt worden. Sie hat für die Durchführung der Kranken-
versicherung die Mitarbeit der weiblichen Versicherten an-
erkannt. Von den Landkrankenkassen abgesehen, die durch
die Reichsversiche-
rungsordnung an
die Stelle der Ge-
meindekrankenkas-
sen getreten sind,
besitzen die Frauen
das aktive und pas-
sive Wahlrecht zu
den Krankenkassen.
Die Ausdehnung
dieses Rechtes auch
auf andere Versiche-
rungszweige war
nach der Begrün-
dung der Regierung
zur Reichsversiche-
rungsordnung be-
absichtigt. Leider ist
die löbliche Absicht
aber im Gesetz nicht
zur Ausführung ge-
langt.

Das Jnteresse
der besitzlosen weib-
lichen Bevölkerung
an der Gestaltung
der Gesetzgebung
erhöht sich in dem
Maße, in dem die
Frauenarbeit an
Umfang gewinnt.
Von Jahr zu Jahr
vermehrt sich die
Zahl der erwerbs-
tätigen Frauen und
Mädchen. Sie hat
seit 1882 um über
50 Prozent zuge-
nommen, während
die weibliche Be-
völkerung nur um
etwas über 30 Proz.
gestiegen ist. Unter
den weiblichen Er-
werbstätigen aber
ist nachweislich auch
die Zahl der ver-
heirateten Frauen
ganz bedeutend gewachsen. Nahezu drei Millionen von ihnen
– außer den Verwitweten und Geschiedenen – weist die Be-
rufszählung von 1907 auf.

Ein großer Teil dieser Frauen seufzt unter doppelter Last.
Neben der Erwerbsarbeit liegt ihnen noch die Hausarbeit ob.
Für sie alle täte es bitter not, daß die Arbeiterschutzbestim-
mungen erweitert würden, so namentlich durch die Einführung
des Achtstundentags. Das ist um so wichtiger, als es die
kapitalistische Ausbeutung den erwerbstätigen verheirateten
Frauen nahezu unmöglich macht, sich der Pflege und Erziehung
der Kinder zu widmen. Diese geht mehr und mehr an öffent-
liche Einrichtungen
über, sie wird in immer größerem
Umfang zu einer staatlichen oder kommunalen Angelegenheit.
Jn dem Maße, wie die Zahl der verheirateten Arbeiterinnen[Spaltenumbruch] steigt, wird die Ansicht an Boden gewinnen, daß die Gesell-
schaft durch geeignete Einrichtungen für die Erziehung sorgen
muß. Was heute in dieser Art vorhanden ist, trägt die Brand-
male der kapitalistischen Ordnung. Die allerwenigsten öffent-
lichen Erziehungsinstitute dienen nur dem Zwecke, Menschen
zu bilden. Fast alle verfolgen unmittelbar oder mittelbar,
bewußt oder unbewußt das Ziel, die Ausbeutung oder Herr-
schaft der besitzenden Klassen aufrechtzuerhalten. So ist das
Mißtrauen vollkommen begreiflich und gerechtfertigt, das im
allgemeinen und bei den Proletarierinnen ganz besonders da-
gegen besteht, den
öffentlichen Anstal-
ten einen großen
Teil der Erziehung
zu übertragen, die
heute noch vorwie-
gend den Händen
der Mutter über-
lassen ist. Dieser
Stand der Dinge
läßt erkennen, wie
berechtigt es ist, daß
die Frau als Wäh-
lerin und als Er-
wählte mitenschei-
det über die Gesetze
und Einrichtun-
gen, die dem Schul- und Er-
ziehungswesen

gelten, daß sie mit-
wirkt in den Körper-
schaften, die über
Schul- und Erzie-
hungsfragen ent-
scheiden. Und ge-
rade für die Frau
des arbeitenden
Volkes besteht als
Mutter ein zwin-
gendes Jnteresse,
nach dem Wahlrecht
zu trachten, als nach
dem Mittel dazu,
in dem gezeigten
Sinne die Entwick-
lung ihrer Kinder
zu fördern.

Wenn die Frau
der besitzenden Klas-
sen ihren Nachwuchs
fremden Leuten zur
Wartung, Pflege
und zur Erziehung
übergibt, so tut sie
das freiwillig, und
es bleibt ihr auch
in hohem Maße die
Möglichkeit zur persönlichen Einwirkung darauf. Die Per-
sonen oder Anstalten, denen sie ihr Kind anvertraut, wählt
sie selber, und diese sind außerdem wirtschaftlich von ihr ab-
hängig. Wie anders liegen die Verhältnisse für die Prole-
tarierin, die im Hause oder außerhalb desselben den ganzen
Tag über erwerbstätig sein muß und gezwungen ist, ihr Kind
fremden Leuten und Jnstitutionen zu überlassen! Jhre Ein-
wirkung auf Pflege und Erziehung ist gering, ja gleich Null.
Durch das Wahlrecht könnte sie ihren Einfluß geltend machen,
daß das Erziehungs- und Unterrichtswesen für die Kinder der
besitzlosen Bevölkerung nicht mehr wie heute Mittel zum Zweck
der herrschenden Klassen bleibt, sondern darauf gerichtet wird,
dem heranwachsenden Geschlecht an Leib und Seele eine ge-
sunde Entwicklung zu verbürgen.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0002" n="13"/><fw place="top" type="header">Frauenwahlrecht!</fw><lb/>
hinlänglich erscheinen und den Gedanken aufkommen lassen,<lb/>
als könne er die überaus hohe Säuglingssterblichkeit in der<lb/>
unbemittelten Bevölkerung beträchtlich herabsetzen?</p><lb/>
        <p>Bei Fragen, die das Leben des Weibes besonders berühren,<lb/>
ist der Mann auch beim besten Willen nicht immer imstande,<lb/>
richtig urteilen und zweckentsprechend entscheiden zu können.<lb/>
Das ist sogar von der deutschen Gesetzgebung bereits an-<lb/>
erkannt worden. Sie hat für die Durchführung der Kranken-<lb/>
versicherung die Mitarbeit der weiblichen Versicherten an-<lb/>
erkannt. Von den Landkrankenkassen abgesehen, die durch<lb/>
die Reichsversiche-<lb/>
rungsordnung an<lb/>
die Stelle der Ge-<lb/>
meindekrankenkas-<lb/>
sen getreten sind,<lb/>
besitzen die Frauen<lb/>
das aktive und pas-<lb/>
sive Wahlrecht zu<lb/>
den Krankenkassen.<lb/>
Die Ausdehnung<lb/>
dieses Rechtes auch<lb/>
auf andere Versiche-<lb/>
rungszweige war<lb/>
nach der Begrün-<lb/>
dung der Regierung<lb/>
zur Reichsversiche-<lb/>
rungsordnung be-<lb/>
absichtigt. Leider ist<lb/>
die löbliche Absicht<lb/>
aber im Gesetz nicht<lb/>
zur Ausführung ge-<lb/>
langt.</p><lb/>
        <p>Das Jnteresse<lb/>
der besitzlosen weib-<lb/>
lichen Bevölkerung<lb/>
an der Gestaltung<lb/>
der Gesetzgebung<lb/>
erhöht sich in dem<lb/>
Maße, in dem die<lb/>
Frauenarbeit an<lb/>
Umfang gewinnt.<lb/>
Von Jahr zu Jahr<lb/>
vermehrt sich die<lb/>
Zahl der erwerbs-<lb/>
tätigen Frauen und<lb/>
Mädchen. Sie hat<lb/>
seit 1882 um über<lb/>
50 Prozent zuge-<lb/>
nommen, während<lb/>
die weibliche Be-<lb/>
völkerung nur um<lb/>
etwas über 30 Proz.<lb/>
gestiegen ist. Unter<lb/>
den weiblichen Er-<lb/>
werbstätigen aber<lb/>
ist nachweislich auch<lb/>
die Zahl der ver-<lb/>
heirateten Frauen<lb/>
ganz bedeutend gewachsen. Nahezu drei Millionen von ihnen<lb/>
&#x2013; außer den Verwitweten und Geschiedenen &#x2013; weist die Be-<lb/>
rufszählung von 1907 auf.</p><lb/>
        <p>Ein großer Teil dieser Frauen seufzt unter doppelter Last.<lb/>
Neben der Erwerbsarbeit liegt ihnen noch die Hausarbeit ob.<lb/>
Für sie alle täte es bitter not, daß die Arbeiterschutzbestim-<lb/>
mungen erweitert würden, so namentlich durch die Einführung<lb/><hi rendition="#g">des Achtstundentags</hi>. Das ist um so wichtiger, als es die<lb/>
kapitalistische Ausbeutung den erwerbstätigen verheirateten<lb/>
Frauen nahezu unmöglich macht, sich der Pflege und Erziehung<lb/>
der Kinder zu widmen. Diese geht mehr und mehr an <hi rendition="#g">öffent-<lb/>
liche Einrichtungen</hi> über, sie wird in immer größerem<lb/>
Umfang zu einer staatlichen oder kommunalen Angelegenheit.<lb/>
Jn dem Maße, wie die Zahl der verheirateten Arbeiterinnen<cb/>
steigt, wird die Ansicht an Boden gewinnen, daß die Gesell-<lb/>
schaft durch geeignete Einrichtungen für die Erziehung sorgen<lb/>
muß. Was heute in dieser Art vorhanden ist, trägt die Brand-<lb/>
male der kapitalistischen Ordnung. Die allerwenigsten öffent-<lb/>
lichen Erziehungsinstitute dienen nur dem Zwecke, Menschen<lb/>
zu bilden. Fast alle verfolgen unmittelbar oder mittelbar,<lb/>
bewußt oder unbewußt das Ziel, die Ausbeutung oder Herr-<lb/>
schaft der besitzenden Klassen aufrechtzuerhalten. So ist das<lb/>
Mißtrauen vollkommen begreiflich und gerechtfertigt, das im<lb/>
allgemeinen und bei den Proletarierinnen ganz besonders da-<lb/>
gegen besteht, den<lb/>
öffentlichen Anstal-<lb/>
ten einen großen<lb/>
Teil der Erziehung<lb/>
zu übertragen, die<lb/>
heute noch vorwie-<lb/>
gend den Händen<lb/>
der Mutter über-<lb/>
lassen ist. Dieser<lb/>
Stand der Dinge<lb/>
läßt erkennen, wie<lb/>
berechtigt es ist, daß<lb/>
die Frau als Wäh-<lb/>
lerin und als Er-<lb/>
wählte mitenschei-<lb/>
det über die <hi rendition="#g">Gesetze<lb/>
und Einrichtun-<lb/>
gen, die dem Schul- und Er-<lb/>
ziehungswesen</hi><lb/>
gelten, daß sie mit-<lb/>
wirkt in den Körper-<lb/>
schaften, die über<lb/>
Schul- und Erzie-<lb/>
hungsfragen ent-<lb/>
scheiden. Und ge-<lb/>
rade für die Frau<lb/>
des arbeitenden<lb/>
Volkes besteht als<lb/>
Mutter ein zwin-<lb/>
gendes Jnteresse,<lb/>
nach dem Wahlrecht<lb/>
zu trachten, als nach<lb/>
dem Mittel dazu,<lb/>
in dem gezeigten<lb/>
Sinne die Entwick-<lb/>
lung ihrer Kinder<lb/>
zu fördern.</p><lb/>
        <p>Wenn die Frau<lb/>
der besitzenden Klas-<lb/>
sen ihren Nachwuchs<lb/>
fremden Leuten zur<lb/>
Wartung, Pflege<lb/>
und zur Erziehung<lb/>
übergibt, so tut sie<lb/>
das freiwillig, und<lb/>
es bleibt ihr auch<lb/>
in hohem Maße die<lb/>
Möglichkeit zur persönlichen Einwirkung darauf. Die Per-<lb/>
sonen oder Anstalten, denen sie ihr Kind anvertraut, wählt<lb/>
sie selber, und diese sind außerdem wirtschaftlich von ihr ab-<lb/>
hängig. Wie anders liegen die Verhältnisse für die Prole-<lb/>
tarierin, die im Hause oder außerhalb desselben den ganzen<lb/>
Tag über erwerbstätig sein muß und gezwungen ist, ihr Kind<lb/>
fremden Leuten und Jnstitutionen zu überlassen! Jhre Ein-<lb/>
wirkung auf Pflege und Erziehung ist gering, ja gleich Null.<lb/>
Durch das Wahlrecht könnte sie ihren Einfluß geltend machen,<lb/>
daß das Erziehungs- und Unterrichtswesen für die Kinder der<lb/>
besitzlosen Bevölkerung nicht mehr wie heute Mittel zum Zweck<lb/>
der herrschenden Klassen bleibt, sondern darauf gerichtet wird,<lb/>
dem heranwachsenden Geschlecht an Leib und Seele eine ge-<lb/>
sunde Entwicklung zu verbürgen.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[13/0002] Frauenwahlrecht! hinlänglich erscheinen und den Gedanken aufkommen lassen, als könne er die überaus hohe Säuglingssterblichkeit in der unbemittelten Bevölkerung beträchtlich herabsetzen? Bei Fragen, die das Leben des Weibes besonders berühren, ist der Mann auch beim besten Willen nicht immer imstande, richtig urteilen und zweckentsprechend entscheiden zu können. Das ist sogar von der deutschen Gesetzgebung bereits an- erkannt worden. Sie hat für die Durchführung der Kranken- versicherung die Mitarbeit der weiblichen Versicherten an- erkannt. Von den Landkrankenkassen abgesehen, die durch die Reichsversiche- rungsordnung an die Stelle der Ge- meindekrankenkas- sen getreten sind, besitzen die Frauen das aktive und pas- sive Wahlrecht zu den Krankenkassen. Die Ausdehnung dieses Rechtes auch auf andere Versiche- rungszweige war nach der Begrün- dung der Regierung zur Reichsversiche- rungsordnung be- absichtigt. Leider ist die löbliche Absicht aber im Gesetz nicht zur Ausführung ge- langt. Das Jnteresse der besitzlosen weib- lichen Bevölkerung an der Gestaltung der Gesetzgebung erhöht sich in dem Maße, in dem die Frauenarbeit an Umfang gewinnt. Von Jahr zu Jahr vermehrt sich die Zahl der erwerbs- tätigen Frauen und Mädchen. Sie hat seit 1882 um über 50 Prozent zuge- nommen, während die weibliche Be- völkerung nur um etwas über 30 Proz. gestiegen ist. Unter den weiblichen Er- werbstätigen aber ist nachweislich auch die Zahl der ver- heirateten Frauen ganz bedeutend gewachsen. Nahezu drei Millionen von ihnen – außer den Verwitweten und Geschiedenen – weist die Be- rufszählung von 1907 auf. Ein großer Teil dieser Frauen seufzt unter doppelter Last. Neben der Erwerbsarbeit liegt ihnen noch die Hausarbeit ob. Für sie alle täte es bitter not, daß die Arbeiterschutzbestim- mungen erweitert würden, so namentlich durch die Einführung des Achtstundentags. Das ist um so wichtiger, als es die kapitalistische Ausbeutung den erwerbstätigen verheirateten Frauen nahezu unmöglich macht, sich der Pflege und Erziehung der Kinder zu widmen. Diese geht mehr und mehr an öffent- liche Einrichtungen über, sie wird in immer größerem Umfang zu einer staatlichen oder kommunalen Angelegenheit. Jn dem Maße, wie die Zahl der verheirateten Arbeiterinnen steigt, wird die Ansicht an Boden gewinnen, daß die Gesell- schaft durch geeignete Einrichtungen für die Erziehung sorgen muß. Was heute in dieser Art vorhanden ist, trägt die Brand- male der kapitalistischen Ordnung. Die allerwenigsten öffent- lichen Erziehungsinstitute dienen nur dem Zwecke, Menschen zu bilden. Fast alle verfolgen unmittelbar oder mittelbar, bewußt oder unbewußt das Ziel, die Ausbeutung oder Herr- schaft der besitzenden Klassen aufrechtzuerhalten. So ist das Mißtrauen vollkommen begreiflich und gerechtfertigt, das im allgemeinen und bei den Proletarierinnen ganz besonders da- gegen besteht, den öffentlichen Anstal- ten einen großen Teil der Erziehung zu übertragen, die heute noch vorwie- gend den Händen der Mutter über- lassen ist. Dieser Stand der Dinge läßt erkennen, wie berechtigt es ist, daß die Frau als Wäh- lerin und als Er- wählte mitenschei- det über die Gesetze und Einrichtun- gen, die dem Schul- und Er- ziehungswesen gelten, daß sie mit- wirkt in den Körper- schaften, die über Schul- und Erzie- hungsfragen ent- scheiden. Und ge- rade für die Frau des arbeitenden Volkes besteht als Mutter ein zwin- gendes Jnteresse, nach dem Wahlrecht zu trachten, als nach dem Mittel dazu, in dem gezeigten Sinne die Entwick- lung ihrer Kinder zu fördern. Wenn die Frau der besitzenden Klas- sen ihren Nachwuchs fremden Leuten zur Wartung, Pflege und zur Erziehung übergibt, so tut sie das freiwillig, und es bleibt ihr auch in hohem Maße die Möglichkeit zur persönlichen Einwirkung darauf. Die Per- sonen oder Anstalten, denen sie ihr Kind anvertraut, wählt sie selber, und diese sind außerdem wirtschaftlich von ihr ab- hängig. Wie anders liegen die Verhältnisse für die Prole- tarierin, die im Hause oder außerhalb desselben den ganzen Tag über erwerbstätig sein muß und gezwungen ist, ihr Kind fremden Leuten und Jnstitutionen zu überlassen! Jhre Ein- wirkung auf Pflege und Erziehung ist gering, ja gleich Null. Durch das Wahlrecht könnte sie ihren Einfluß geltend machen, daß das Erziehungs- und Unterrichtswesen für die Kinder der besitzlosen Bevölkerung nicht mehr wie heute Mittel zum Zweck der herrschenden Klassen bleibt, sondern darauf gerichtet wird, dem heranwachsenden Geschlecht an Leib und Seele eine ge- sunde Entwicklung zu verbürgen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-11-24T10:24:28Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-11-24T10:24:28Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: wie Vorlage; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hanna_arbeiterinnen_1912
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hanna_arbeiterinnen_1912/2
Zitationshilfe: Hanna, Gertrud: Die Bedeutung des Frauenwahlrechts für die Arbeiterinnen. In: Frauenwahlrecht! Hrsg. zum Zweiten Sozialdemokratischen Frauentag von Clara Zetkin. 12. Mai 1912, S. 12–14, hier S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hanna_arbeiterinnen_1912/2>, abgerufen am 18.12.2024.