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Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772.

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I. Abschnitt. Der Verstand.

Hierbei |bleibt die Sorgfalt noch nicht stehen; denn
weil die Mahlerei Schwierigkeiten machte, so erfanden
die Völkerschaften, sonderlich die, welche sich eines ge-
sellschaftlichen Lebens bedienten, in den allerältesten Zei-
ten die Bilderschriften (hieroglypha) nämlich willkür-
lich erdachte Züge, welche einen ganzen Begrif ausdrük-
ken (l**). Doch da auch diese Characters grosse Schwie-
rigkeiten machten, und die Anzahl der Begriffe zugleich
mit den Künsten zu sehr anwuchs, so entstand die gewis
wunderbare Erfindung der Phönicier, welche bewegli-
che,
wenige und leichte Characters erfanden, aus deren
Zusammensezzung unendliche Namen gemacht werden
konnten, die zwar den Sachen ganz und gar nicht ähnlich
sind, die aber dennoch der Gebrauch und die wiederholte
Verbindung mit den Sachen vereinigte. Solchergestalt
drükkten sie mit den Buchstaben (Schim und M) die
Sonne selbst, und den Ton des Wortes Schemesch aus.
Dieses in der That grosse Kunststükk, wurde nach Euro-
pa gebracht, und blieb bei dessen Einwohnern.

Durch diese Hülfsmittel erweitern sich die Kräfte der
Seele auf eine wunderbare Weise. Man behält die er-
stere Zeichen, die man durch das Gehör lernt, oder die
Namen der Dinge, im Gedächtnis viel leichter, als die
Bilder, weil sie einfältiger sind, noch die Mahlerarbeit
nöthig haben, welche sehr beschwerlich sein würde, wenn
man sich das Bild eines Freundes ins Gedächtnis brin-
gen wollte. Der Polnische Knabe, und das Französische
Mädchen, konnten, weil sie keine Zeichen zu gebrauchen
wusten, auch nicht erzählen, wie es ihnen vormals gegan-
gen war (l+). Die Seele hat sich dergestalt an die Zei-
chen gewöhnt, daß sie blos durch Zeichen denkt, und blos
die Spuren der Töne, die Abbildungen aller Dinge der
Seele vormahlen, seltene Exempel ausgenommen, wenn
irgend ein Affekt der Seele, das Bild selbst ins Gedächt-

nis
(l**) [Spaltenumbruch] Jn Egipten, China.
(l+) CONNOR. p. 342. WALD-
[Spaltenumbruch] SCHMID de miraculis. Algem. Ma-
gaz. T. VII.
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I. Abſchnitt. Der Verſtand.

Hierbei |bleibt die Sorgfalt noch nicht ſtehen; denn
weil die Mahlerei Schwierigkeiten machte, ſo erfanden
die Voͤlkerſchaften, ſonderlich die, welche ſich eines ge-
ſellſchaftlichen Lebens bedienten, in den alleraͤlteſten Zei-
ten die Bilderſchriften (hieroglypha) naͤmlich willkuͤr-
lich erdachte Zuͤge, welche einen ganzen Begrif ausdruͤk-
ken (l**). Doch da auch dieſe Characters groſſe Schwie-
rigkeiten machten, und die Anzahl der Begriffe zugleich
mit den Kuͤnſten zu ſehr anwuchs, ſo entſtand die gewis
wunderbare Erfindung der Phoͤnicier, welche bewegli-
che,
wenige und leichte Characters erfanden, aus deren
Zuſammenſezzung unendliche Namen gemacht werden
konnten, die zwar den Sachen ganz und gar nicht aͤhnlich
ſind, die aber dennoch der Gebrauch und die wiederholte
Verbindung mit den Sachen vereinigte. Solchergeſtalt
druͤkkten ſie mit den Buchſtaben (Schim und M) die
Sonne ſelbſt, und den Ton des Wortes Schemeſch aus.
Dieſes in der That groſſe Kunſtſtuͤkk, wurde nach Euro-
pa gebracht, und blieb bei deſſen Einwohnern.

Durch dieſe Huͤlfsmittel erweitern ſich die Kraͤfte der
Seele auf eine wunderbare Weiſe. Man behaͤlt die er-
ſtere Zeichen, die man durch das Gehoͤr lernt, oder die
Namen der Dinge, im Gedaͤchtnis viel leichter, als die
Bilder, weil ſie einfaͤltiger ſind, noch die Mahlerarbeit
noͤthig haben, welche ſehr beſchwerlich ſein wuͤrde, wenn
man ſich das Bild eines Freundes ins Gedaͤchtnis brin-
gen wollte. Der Polniſche Knabe, und das Franzoͤſiſche
Maͤdchen, konnten, weil ſie keine Zeichen zu gebrauchen
wuſten, auch nicht erzaͤhlen, wie es ihnen vormals gegan-
gen war (l†). Die Seele hat ſich dergeſtalt an die Zei-
chen gewoͤhnt, daß ſie blos durch Zeichen denkt, und blos
die Spuren der Toͤne, die Abbildungen aller Dinge der
Seele vormahlen, ſeltene Exempel ausgenommen, wenn
irgend ein Affekt der Seele, das Bild ſelbſt ins Gedaͤcht-

nis
(l**) [Spaltenumbruch] Jn Egipten, China.
(l†) CONNOR. p. 342. WALD-
[Spaltenumbruch] SCHMID de miraculis. Algem. Ma-
gaz. T. VII.
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[1091/1109] I. Abſchnitt. Der Verſtand. Hierbei |bleibt die Sorgfalt noch nicht ſtehen; denn weil die Mahlerei Schwierigkeiten machte, ſo erfanden die Voͤlkerſchaften, ſonderlich die, welche ſich eines ge- ſellſchaftlichen Lebens bedienten, in den alleraͤlteſten Zei- ten die Bilderſchriften (hieroglypha) naͤmlich willkuͤr- lich erdachte Zuͤge, welche einen ganzen Begrif ausdruͤk- ken (l**). Doch da auch dieſe Characters groſſe Schwie- rigkeiten machten, und die Anzahl der Begriffe zugleich mit den Kuͤnſten zu ſehr anwuchs, ſo entſtand die gewis wunderbare Erfindung der Phoͤnicier, welche bewegli- che, wenige und leichte Characters erfanden, aus deren Zuſammenſezzung unendliche Namen gemacht werden konnten, die zwar den Sachen ganz und gar nicht aͤhnlich ſind, die aber dennoch der Gebrauch und die wiederholte Verbindung mit den Sachen vereinigte. Solchergeſtalt druͤkkten ſie mit den Buchſtaben (Schim und M) die Sonne ſelbſt, und den Ton des Wortes Schemeſch aus. Dieſes in der That groſſe Kunſtſtuͤkk, wurde nach Euro- pa gebracht, und blieb bei deſſen Einwohnern. Durch dieſe Huͤlfsmittel erweitern ſich die Kraͤfte der Seele auf eine wunderbare Weiſe. Man behaͤlt die er- ſtere Zeichen, die man durch das Gehoͤr lernt, oder die Namen der Dinge, im Gedaͤchtnis viel leichter, als die Bilder, weil ſie einfaͤltiger ſind, noch die Mahlerarbeit noͤthig haben, welche ſehr beſchwerlich ſein wuͤrde, wenn man ſich das Bild eines Freundes ins Gedaͤchtnis brin- gen wollte. Der Polniſche Knabe, und das Franzoͤſiſche Maͤdchen, konnten, weil ſie keine Zeichen zu gebrauchen wuſten, auch nicht erzaͤhlen, wie es ihnen vormals gegan- gen war (l†). Die Seele hat ſich dergeſtalt an die Zei- chen gewoͤhnt, daß ſie blos durch Zeichen denkt, und blos die Spuren der Toͤne, die Abbildungen aller Dinge der Seele vormahlen, ſeltene Exempel ausgenommen, wenn irgend ein Affekt der Seele, das Bild ſelbſt ins Gedaͤcht- nis (l**) Jn Egipten, China. (l†) CONNOR. p. 342. WALD- SCHMID de miraculis. Algem. Ma- gaz. T. VII. Z z z 2

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Zitationshilfe: Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772, S. 1091. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/1109>, abgerufen am 23.11.2024.