Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Verstand. XVII. Buch.
gewust, wenn sie wieder aufgefrischt werden, für die ih-
rige erkennt, so wie ihr diejenige angehören, welche durch
Empfindungen, oder Gedanken eben jezzo in ihr entstehen.

Daß dieses Wesen nichts Körperliches sei, kann man
aus vielen Gründen schliessen, welche wir kürzlich berüh-
ren wollen. So ist gezeigt worden, daß ein jeder Kör-
per seiner Richtung unverändert folge (q), so lange bis er
durch eine andre Kraft von seinem Wege abgeleitet wird.

Hingegen ändert die Seele nach Belieben den Faden
ihrer Gedanken, sie geht von diesen zu andern über, und
es stekkt in diesen Gedanken keine Ursache, warum sie ei-
nen neuen aufsuchen soll.

Es stellt sich ferner die Seele nicht eine einzige Jdee,
sondern unendlich viele vor, die sie die ihrige nennt, und
mit sich selbst vereinigt. Wenn nun der Vorrath des
Gedächtnisses (r) keine Seele hätte, die sich diese Spuren
eigen machte, so scheinet es zu geschehen, daß unter den
Arten der Dinge, welche sich in diesem Vorrathshause
befinden, eine jede einzeln für sich bleiben müste, und es
würde unser ganzes Gedächtnis gleichsam eine Landkarte
vorstellen, auf welcher kein Dorf zum andern gehörte.
Man kann sich auch nicht vorstellen, wie ein Körper ein
einziges Ding, und sich seiner Einfachheit und Person
bewust sein könne, und sich dennoch so viel verschiedne Ar-
ten von Dingen wesentlich machen werde. Nun ist die
Seele weder eine einzige Empfindung, noch alle, sondern
dasjenige Ding, welches sich diese alle zu eigen macht.

Doch es scheinet auch nicht die Urtheilskraft (s) dem
Körper anzugehören. Es lieget die blaue Farbe neben

der
(q) [Spaltenumbruch] H. DITTON, MUSSCHEN-
BROECK de anima se ipsam igno-
rante p.
20.
(r) Ehedem BAYLE Conf. Mem.
de l'Acad. de Berlin. T. XIII. p.

386.
(s) [Spaltenumbruch] Körperlich macht es HEL-
VETIUS l. c. p.
13 14. und die Be-
urtheilungskraft überflüßig. IDEM
pag.
18.

Der Verſtand. XVII. Buch.
gewuſt, wenn ſie wieder aufgefriſcht werden, fuͤr die ih-
rige erkennt, ſo wie ihr diejenige angehoͤren, welche durch
Empfindungen, oder Gedanken eben jezzo in ihr entſtehen.

Daß dieſes Weſen nichts Koͤrperliches ſei, kann man
aus vielen Gruͤnden ſchlieſſen, welche wir kuͤrzlich beruͤh-
ren wollen. So iſt gezeigt worden, daß ein jeder Koͤr-
per ſeiner Richtung unveraͤndert folge (q), ſo lange bis er
durch eine andre Kraft von ſeinem Wege abgeleitet wird.

Hingegen aͤndert die Seele nach Belieben den Faden
ihrer Gedanken, ſie geht von dieſen zu andern uͤber, und
es ſtekkt in dieſen Gedanken keine Urſache, warum ſie ei-
nen neuen aufſuchen ſoll.

Es ſtellt ſich ferner die Seele nicht eine einzige Jdee,
ſondern unendlich viele vor, die ſie die ihrige nennt, und
mit ſich ſelbſt vereinigt. Wenn nun der Vorrath des
Gedaͤchtniſſes (r) keine Seele haͤtte, die ſich dieſe Spuren
eigen machte, ſo ſcheinet es zu geſchehen, daß unter den
Arten der Dinge, welche ſich in dieſem Vorrathshauſe
befinden, eine jede einzeln fuͤr ſich bleiben muͤſte, und es
wuͤrde unſer ganzes Gedaͤchtnis gleichſam eine Landkarte
vorſtellen, auf welcher kein Dorf zum andern gehoͤrte.
Man kann ſich auch nicht vorſtellen, wie ein Koͤrper ein
einziges Ding, und ſich ſeiner Einfachheit und Perſon
bewuſt ſein koͤnne, und ſich dennoch ſo viel verſchiedne Ar-
ten von Dingen weſentlich machen werde. Nun iſt die
Seele weder eine einzige Empfindung, noch alle, ſondern
dasjenige Ding, welches ſich dieſe alle zu eigen macht.

Doch es ſcheinet auch nicht die Urtheilskraft (s) dem
Koͤrper anzugehoͤren. Es lieget die blaue Farbe neben

der
(q) [Spaltenumbruch] H. DITTON, MUSSCHEN-
BROECK de anima ſe ipſam igno-
rante p.
20.
(r) Ehedem BAYLE Conf. Mém.
de l’Acad. de Berlin. T. XIII. p.

386.
(s) [Spaltenumbruch] Koͤrperlich macht es HEL-
VETIUS l. c. p.
13 14. und die Be-
urtheilungskraft uͤberfluͤßig. IDEM
pag.
18.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f1094" n="1076"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Der Ver&#x017F;tand. <hi rendition="#aq">XVII.</hi> Buch.</hi></fw><lb/>
gewu&#x017F;t, wenn &#x017F;ie wieder aufgefri&#x017F;cht werden, fu&#x0364;r die ih-<lb/>
rige erkennt, &#x017F;o wie ihr diejenige angeho&#x0364;ren, welche durch<lb/>
Empfindungen, oder Gedanken eben jezzo in ihr ent&#x017F;tehen.</p><lb/>
            <p>Daß die&#x017F;es We&#x017F;en nichts Ko&#x0364;rperliches &#x017F;ei, kann man<lb/>
aus vielen Gru&#x0364;nden &#x017F;chlie&#x017F;&#x017F;en, welche wir ku&#x0364;rzlich beru&#x0364;h-<lb/>
ren wollen. So i&#x017F;t gezeigt worden, daß ein jeder Ko&#x0364;r-<lb/>
per &#x017F;einer Richtung unvera&#x0364;ndert folge <note place="foot" n="(q)"><cb/><hi rendition="#aq">H. DITTON, MUSSCHEN-<lb/>
BROECK de anima &#x017F;e ip&#x017F;am igno-<lb/>
rante p.</hi> 20.</note>, &#x017F;o lange bis er<lb/>
durch eine andre Kraft von &#x017F;einem Wege abgeleitet wird.</p><lb/>
            <p>Hingegen a&#x0364;ndert die Seele nach Belieben den Faden<lb/>
ihrer Gedanken, &#x017F;ie geht von die&#x017F;en zu andern u&#x0364;ber, und<lb/>
es &#x017F;tekkt in die&#x017F;en Gedanken keine Ur&#x017F;ache, warum &#x017F;ie ei-<lb/>
nen neuen auf&#x017F;uchen &#x017F;oll.</p><lb/>
            <p>Es &#x017F;tellt &#x017F;ich ferner die Seele nicht eine einzige Jdee,<lb/>
&#x017F;ondern unendlich viele vor, die &#x017F;ie die ihrige nennt, und<lb/>
mit &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t vereinigt. Wenn nun der Vorrath des<lb/>
Geda&#x0364;chtni&#x017F;&#x017F;es <note place="foot" n="(r)">Ehedem <hi rendition="#aq">BAYLE Conf. Mém.<lb/>
de l&#x2019;Acad. de Berlin. T. XIII. p.</hi><lb/>
386.</note> keine Seele ha&#x0364;tte, die &#x017F;ich die&#x017F;e Spuren<lb/>
eigen machte, &#x017F;o &#x017F;cheinet es zu ge&#x017F;chehen, daß unter den<lb/>
Arten der Dinge, welche &#x017F;ich in die&#x017F;em Vorrathshau&#x017F;e<lb/>
befinden, eine jede einzeln fu&#x0364;r &#x017F;ich bleiben mu&#x0364;&#x017F;te, und es<lb/>
wu&#x0364;rde un&#x017F;er ganzes Geda&#x0364;chtnis gleich&#x017F;am eine Landkarte<lb/>
vor&#x017F;tellen, auf welcher kein Dorf zum andern geho&#x0364;rte.<lb/>
Man kann &#x017F;ich auch nicht vor&#x017F;tellen, wie ein Ko&#x0364;rper ein<lb/>
einziges Ding, und &#x017F;ich &#x017F;einer Einfachheit und Per&#x017F;on<lb/>
bewu&#x017F;t &#x017F;ein ko&#x0364;nne, und &#x017F;ich dennoch &#x017F;o viel ver&#x017F;chiedne Ar-<lb/>
ten von Dingen we&#x017F;entlich machen werde. Nun i&#x017F;t die<lb/>
Seele weder eine einzige Empfindung, noch alle, &#x017F;ondern<lb/>
dasjenige Ding, welches &#x017F;ich die&#x017F;e alle zu eigen macht.</p><lb/>
            <p>Doch es &#x017F;cheinet auch nicht die Urtheilskraft <note place="foot" n="(s)"><cb/>
Ko&#x0364;rperlich macht es <hi rendition="#aq">HEL-<lb/>
VETIUS l. c. p.</hi> 13 14. und die Be-<lb/>
urtheilungskraft u&#x0364;berflu&#x0364;ßig. <hi rendition="#aq">IDEM<lb/>
pag.</hi> 18.</note> dem<lb/>
Ko&#x0364;rper anzugeho&#x0364;ren. Es lieget die blaue Farbe neben<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">der</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1076/1094] Der Verſtand. XVII. Buch. gewuſt, wenn ſie wieder aufgefriſcht werden, fuͤr die ih- rige erkennt, ſo wie ihr diejenige angehoͤren, welche durch Empfindungen, oder Gedanken eben jezzo in ihr entſtehen. Daß dieſes Weſen nichts Koͤrperliches ſei, kann man aus vielen Gruͤnden ſchlieſſen, welche wir kuͤrzlich beruͤh- ren wollen. So iſt gezeigt worden, daß ein jeder Koͤr- per ſeiner Richtung unveraͤndert folge (q), ſo lange bis er durch eine andre Kraft von ſeinem Wege abgeleitet wird. Hingegen aͤndert die Seele nach Belieben den Faden ihrer Gedanken, ſie geht von dieſen zu andern uͤber, und es ſtekkt in dieſen Gedanken keine Urſache, warum ſie ei- nen neuen aufſuchen ſoll. Es ſtellt ſich ferner die Seele nicht eine einzige Jdee, ſondern unendlich viele vor, die ſie die ihrige nennt, und mit ſich ſelbſt vereinigt. Wenn nun der Vorrath des Gedaͤchtniſſes (r) keine Seele haͤtte, die ſich dieſe Spuren eigen machte, ſo ſcheinet es zu geſchehen, daß unter den Arten der Dinge, welche ſich in dieſem Vorrathshauſe befinden, eine jede einzeln fuͤr ſich bleiben muͤſte, und es wuͤrde unſer ganzes Gedaͤchtnis gleichſam eine Landkarte vorſtellen, auf welcher kein Dorf zum andern gehoͤrte. Man kann ſich auch nicht vorſtellen, wie ein Koͤrper ein einziges Ding, und ſich ſeiner Einfachheit und Perſon bewuſt ſein koͤnne, und ſich dennoch ſo viel verſchiedne Ar- ten von Dingen weſentlich machen werde. Nun iſt die Seele weder eine einzige Empfindung, noch alle, ſondern dasjenige Ding, welches ſich dieſe alle zu eigen macht. Doch es ſcheinet auch nicht die Urtheilskraft (s) dem Koͤrper anzugehoͤren. Es lieget die blaue Farbe neben der (q) H. DITTON, MUSSCHEN- BROECK de anima ſe ipſam igno- rante p. 20. (r) Ehedem BAYLE Conf. Mém. de l’Acad. de Berlin. T. XIII. p. 386. (s) Koͤrperlich macht es HEL- VETIUS l. c. p. 13 14. und die Be- urtheilungskraft uͤberfluͤßig. IDEM pag. 18.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/1094
Zitationshilfe: Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772, S. 1076. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/1094>, abgerufen am 07.06.2024.