Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772.

Bild:
<< vorherige Seite




Siebzehntes Buch.
Die innerlichen Sinne.


Erster Abschnitt.
Der Verstand.
§. 1.

Von neuem müssen wir uns hier in die Hipothesen
und Muthmassungen einlassen. Es könnte uns
aber wunderbar vorkommen, daß uns das näch-
ste Geschäfte der Seele so wenig bekannt sei, und da wir
die Bewegungen des Himmels selbst besser verstehen, so
sind wir in der Erkenntniß unsrer eignen Seelen, d. i.
unsrer selbst, und deren Arbeit, wenn sie empfindet, und
sich erinnert, völlig unwissend. Wir scheinen so geschaf-
fen zu sein, daß wir unsre Sinnen zur Erkenntniß der
Welt, gebrauchen sollen: und nicht, daß sich unsre See-
le selbst beschauen, und ihre Haushaltung und Leben er-
lernen soll. Was wir von ihr mit Gewisheit wissen, ist
gewis nur was weniges, ein grosser Theil ist uns verbor-
gen, und ein nicht geringer Theil, wird uns in Ewigkeit
verborgen bleiben, wenn es uns von dem künftigen Wachs-
thume in der Erkenntnis darnach zu urtheilen erlaubt ist,
was die verflossnen Jahrhunderte geliefert haben. Jn-
dessen glaube ich doch, daß uns ein grosses Licht hierinnen
aufgehen würde, wenn wir uns der Gelegenheit närri-
sche Menschen, tolle und solche zu öfnen, die ihr Gedächt-
nis verlohren haben, fleißiger bedienen wollten: wenn wir
das Gehirn derjenigen Thiere, deren Sitten und Ge-
schikklichkeiten uns bekannt sind, mit dem menschlichen
Gehirne genau vergleichen: und wenn endlich der klüge-
re, und zu Ueberlegungen geschikktere Mensch, das Leben
und die Verrichtungen seiner Seele in einer langen Reihe

von
U u u 2




Siebzehntes Buch.
Die innerlichen Sinne.


Erſter Abſchnitt.
Der Verſtand.
§. 1.

Von neuem muͤſſen wir uns hier in die Hipotheſen
und Muthmaſſungen einlaſſen. Es koͤnnte uns
aber wunderbar vorkommen, daß uns das naͤch-
ſte Geſchaͤfte der Seele ſo wenig bekannt ſei, und da wir
die Bewegungen des Himmels ſelbſt beſſer verſtehen, ſo
ſind wir in der Erkenntniß unſrer eignen Seelen, d. i.
unſrer ſelbſt, und deren Arbeit, wenn ſie empfindet, und
ſich erinnert, voͤllig unwiſſend. Wir ſcheinen ſo geſchaf-
fen zu ſein, daß wir unſre Sinnen zur Erkenntniß der
Welt, gebrauchen ſollen: und nicht, daß ſich unſre See-
le ſelbſt beſchauen, und ihre Haushaltung und Leben er-
lernen ſoll. Was wir von ihr mit Gewisheit wiſſen, iſt
gewis nur was weniges, ein groſſer Theil iſt uns verbor-
gen, und ein nicht geringer Theil, wird uns in Ewigkeit
verborgen bleiben, wenn es uns von dem kuͤnftigen Wachs-
thume in der Erkenntnis darnach zu urtheilen erlaubt iſt,
was die verfloſſnen Jahrhunderte geliefert haben. Jn-
deſſen glaube ich doch, daß uns ein groſſes Licht hierinnen
aufgehen wuͤrde, wenn wir uns der Gelegenheit naͤrri-
ſche Menſchen, tolle und ſolche zu oͤfnen, die ihr Gedaͤcht-
nis verlohren haben, fleißiger bedienen wollten: wenn wir
das Gehirn derjenigen Thiere, deren Sitten und Ge-
ſchikklichkeiten uns bekannt ſind, mit dem menſchlichen
Gehirne genau vergleichen: und wenn endlich der kluͤge-
re, und zu Ueberlegungen geſchikktere Menſch, das Leben
und die Verrichtungen ſeiner Seele in einer langen Reihe

von
U u u 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f1061" n="1043"/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
      <div n="1">
        <head>Siebzehntes Buch.<lb/><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Die innerlichen Sinne.</hi></hi></head><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Er&#x017F;ter Ab&#x017F;chnitt.<lb/><hi rendition="#g">Der Ver&#x017F;tand.</hi></hi> </head><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 1.</head><lb/>
            <p><hi rendition="#in">V</hi>on neuem mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en wir uns hier in die Hipothe&#x017F;en<lb/>
und Muthma&#x017F;&#x017F;ungen einla&#x017F;&#x017F;en. Es ko&#x0364;nnte uns<lb/>
aber wunderbar vorkommen, daß uns das na&#x0364;ch-<lb/>
&#x017F;te Ge&#x017F;cha&#x0364;fte der Seele &#x017F;o wenig bekannt &#x017F;ei, und da wir<lb/>
die Bewegungen des Himmels &#x017F;elb&#x017F;t be&#x017F;&#x017F;er ver&#x017F;tehen, &#x017F;o<lb/>
&#x017F;ind wir in der Erkenntniß un&#x017F;rer eignen Seelen, d. i.<lb/>
un&#x017F;rer &#x017F;elb&#x017F;t, und deren Arbeit, wenn &#x017F;ie empfindet, und<lb/>
&#x017F;ich erinnert, vo&#x0364;llig unwi&#x017F;&#x017F;end. Wir &#x017F;cheinen &#x017F;o ge&#x017F;chaf-<lb/>
fen zu &#x017F;ein, daß wir un&#x017F;re Sinnen zur Erkenntniß der<lb/>
Welt, gebrauchen &#x017F;ollen: und nicht, daß &#x017F;ich un&#x017F;re See-<lb/>
le &#x017F;elb&#x017F;t be&#x017F;chauen, und ihre Haushaltung und Leben er-<lb/>
lernen &#x017F;oll. Was wir von ihr mit Gewisheit wi&#x017F;&#x017F;en, i&#x017F;t<lb/>
gewis nur was weniges, ein gro&#x017F;&#x017F;er Theil i&#x017F;t uns verbor-<lb/>
gen, und ein nicht geringer Theil, wird uns in Ewigkeit<lb/>
verborgen bleiben, wenn es uns von dem ku&#x0364;nftigen Wachs-<lb/>
thume in der Erkenntnis darnach zu urtheilen erlaubt i&#x017F;t,<lb/>
was die verflo&#x017F;&#x017F;nen Jahrhunderte geliefert haben. Jn-<lb/>
de&#x017F;&#x017F;en glaube ich doch, daß uns ein gro&#x017F;&#x017F;es Licht hierinnen<lb/>
aufgehen wu&#x0364;rde, wenn wir uns der Gelegenheit na&#x0364;rri-<lb/>
&#x017F;che Men&#x017F;chen, tolle und &#x017F;olche zu o&#x0364;fnen, die ihr Geda&#x0364;cht-<lb/>
nis verlohren haben, fleißiger bedienen wollten: wenn wir<lb/>
das Gehirn derjenigen Thiere, deren Sitten und Ge-<lb/>
&#x017F;chikklichkeiten uns bekannt &#x017F;ind, mit dem men&#x017F;chlichen<lb/>
Gehirne genau vergleichen: und wenn endlich der klu&#x0364;ge-<lb/>
re, und zu Ueberlegungen ge&#x017F;chikktere Men&#x017F;ch, das Leben<lb/>
und die Verrichtungen &#x017F;einer Seele in einer langen Reihe<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">U u u 2</fw><fw place="bottom" type="catch">von</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1043/1061] Siebzehntes Buch. Die innerlichen Sinne. Erſter Abſchnitt. Der Verſtand. §. 1. Von neuem muͤſſen wir uns hier in die Hipotheſen und Muthmaſſungen einlaſſen. Es koͤnnte uns aber wunderbar vorkommen, daß uns das naͤch- ſte Geſchaͤfte der Seele ſo wenig bekannt ſei, und da wir die Bewegungen des Himmels ſelbſt beſſer verſtehen, ſo ſind wir in der Erkenntniß unſrer eignen Seelen, d. i. unſrer ſelbſt, und deren Arbeit, wenn ſie empfindet, und ſich erinnert, voͤllig unwiſſend. Wir ſcheinen ſo geſchaf- fen zu ſein, daß wir unſre Sinnen zur Erkenntniß der Welt, gebrauchen ſollen: und nicht, daß ſich unſre See- le ſelbſt beſchauen, und ihre Haushaltung und Leben er- lernen ſoll. Was wir von ihr mit Gewisheit wiſſen, iſt gewis nur was weniges, ein groſſer Theil iſt uns verbor- gen, und ein nicht geringer Theil, wird uns in Ewigkeit verborgen bleiben, wenn es uns von dem kuͤnftigen Wachs- thume in der Erkenntnis darnach zu urtheilen erlaubt iſt, was die verfloſſnen Jahrhunderte geliefert haben. Jn- deſſen glaube ich doch, daß uns ein groſſes Licht hierinnen aufgehen wuͤrde, wenn wir uns der Gelegenheit naͤrri- ſche Menſchen, tolle und ſolche zu oͤfnen, die ihr Gedaͤcht- nis verlohren haben, fleißiger bedienen wollten: wenn wir das Gehirn derjenigen Thiere, deren Sitten und Ge- ſchikklichkeiten uns bekannt ſind, mit dem menſchlichen Gehirne genau vergleichen: und wenn endlich der kluͤge- re, und zu Ueberlegungen geſchikktere Menſch, das Leben und die Verrichtungen ſeiner Seele in einer langen Reihe von U u u 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/1061
Zitationshilfe: Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772, S. 1043. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/1061>, abgerufen am 23.11.2024.