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Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 4. Berlin, 1768.

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VIII. Abschnitt. Die Muthmassungen.

Da nun der Ribbennerve in so viele Knoten abge-
theilt ist, als Wirbelbeine da sind, so hat die Natur die
Ursache, von der der Eindruck des untersten Nerven,
wo dieser vom Herzen am weitesten abliegt, mit Nach-
druck erstickt wird, so viel mal hinter einander zu wieder-
holen beliebt; und es wird diesem Nerven in der That,
wie einer Saite ergehen, um welche man 24 Knäutel
von äusserst zähen Fäden flechten wollte.

5. Wir haben an einem andern Orte die Erinne-
rung gethan [Spaltenumbruch] k, daß nur die sinnlichen Eindrücke der
Nerven über sich hinaufsteigen, oder ins Gehirn kommen.
Gesetzt nun, daß ein Finger Schmerzen fühle, so wird,
wenn das Uebel groß wird, z. E. in einem gefährlichen
Fingerwurme, wie man diese Entzündung nennt, der
Schmerz davon in dem längst dem Arme hinaufsteigen-
den Nerven, im Ellenbogen und endlich im Gehirne
empfunden werden. Es stecke dagegen das Uebel im
Schulternerven, so wird der Schmerz niemals am Fin-
ger gefühlt werden, wie ich mehr als zu deutlich an mir
selbst erfahren habe, da ich die heftigsten Schmerzen nach
einem Falle, und von dem getrofnen Umbiegenerven
der Schulter, einen ganzen Monat ausstehen muste.

Dagegen kehrt die Natur bei den Bewegungen das
Gesetze um. Denn wenn ein Nervenstamm gereitzt wor-
den, welcher vielen Muskeln Aeste giebt, so gerathen
alle diese Muskeln in Krämpfe. Und im Gegentheil,
wenn der Nerve eines solchen Muskels Reitze empfängt,
so wird der Krampf, vermöge der Versuche, welche man
an lebendigen Thieren gemacht hat, zu keinem andern
dieser Muskeln übergehen l.

Wir wollen diesen Erscheinungen nachdenken.
Wenn die Nervenfäsergen, den Eindruck des Sinnli-

chen,
k p. 320.
l Die Stärke dieses Beweises
hat bereits Aristoteles erfunden, und
[Spaltenumbruch] Caesalpinus quaest. Perip. L. IV.
c. 3. p.
104.
VIII. Abſchnitt. Die Muthmaſſungen.

Da nun der Ribbennerve in ſo viele Knoten abge-
theilt iſt, als Wirbelbeine da ſind, ſo hat die Natur die
Urſache, von der der Eindruck des unterſten Nerven,
wo dieſer vom Herzen am weiteſten abliegt, mit Nach-
druck erſtickt wird, ſo viel mal hinter einander zu wieder-
holen beliebt; und es wird dieſem Nerven in der That,
wie einer Saite ergehen, um welche man 24 Knaͤutel
von aͤuſſerſt zaͤhen Faͤden flechten wollte.

5. Wir haben an einem andern Orte die Erinne-
rung gethan [Spaltenumbruch] k, daß nur die ſinnlichen Eindruͤcke der
Nerven uͤber ſich hinaufſteigen, oder ins Gehirn kommen.
Geſetzt nun, daß ein Finger Schmerzen fuͤhle, ſo wird,
wenn das Uebel groß wird, z. E. in einem gefaͤhrlichen
Fingerwurme, wie man dieſe Entzuͤndung nennt, der
Schmerz davon in dem laͤngſt dem Arme hinaufſteigen-
den Nerven, im Ellenbogen und endlich im Gehirne
empfunden werden. Es ſtecke dagegen das Uebel im
Schulternerven, ſo wird der Schmerz niemals am Fin-
ger gefuͤhlt werden, wie ich mehr als zu deutlich an mir
ſelbſt erfahren habe, da ich die heftigſten Schmerzen nach
einem Falle, und von dem getrofnen Umbiegenerven
der Schulter, einen ganzen Monat ausſtehen muſte.

Dagegen kehrt die Natur bei den Bewegungen das
Geſetze um. Denn wenn ein Nervenſtamm gereitzt wor-
den, welcher vielen Muskeln Aeſte giebt, ſo gerathen
alle dieſe Muskeln in Kraͤmpfe. Und im Gegentheil,
wenn der Nerve eines ſolchen Muskels Reitze empfaͤngt,
ſo wird der Krampf, vermoͤge der Verſuche, welche man
an lebendigen Thieren gemacht hat, zu keinem andern
dieſer Muskeln uͤbergehen l.

Wir wollen dieſen Erſcheinungen nachdenken.
Wenn die Nervenfaͤſergen, den Eindruck des Sinnli-

chen,
k p. 320.
l Die Staͤrke dieſes Beweiſes
hat bereits Ariſtoteles erfunden, und
[Spaltenumbruch] Caeſalpinus quaeſt. Perip. L. IV.
c. 3. p.
104.
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[571/0607] VIII. Abſchnitt. Die Muthmaſſungen. Da nun der Ribbennerve in ſo viele Knoten abge- theilt iſt, als Wirbelbeine da ſind, ſo hat die Natur die Urſache, von der der Eindruck des unterſten Nerven, wo dieſer vom Herzen am weiteſten abliegt, mit Nach- druck erſtickt wird, ſo viel mal hinter einander zu wieder- holen beliebt; und es wird dieſem Nerven in der That, wie einer Saite ergehen, um welche man 24 Knaͤutel von aͤuſſerſt zaͤhen Faͤden flechten wollte. 5. Wir haben an einem andern Orte die Erinne- rung gethan k, daß nur die ſinnlichen Eindruͤcke der Nerven uͤber ſich hinaufſteigen, oder ins Gehirn kommen. Geſetzt nun, daß ein Finger Schmerzen fuͤhle, ſo wird, wenn das Uebel groß wird, z. E. in einem gefaͤhrlichen Fingerwurme, wie man dieſe Entzuͤndung nennt, der Schmerz davon in dem laͤngſt dem Arme hinaufſteigen- den Nerven, im Ellenbogen und endlich im Gehirne empfunden werden. Es ſtecke dagegen das Uebel im Schulternerven, ſo wird der Schmerz niemals am Fin- ger gefuͤhlt werden, wie ich mehr als zu deutlich an mir ſelbſt erfahren habe, da ich die heftigſten Schmerzen nach einem Falle, und von dem getrofnen Umbiegenerven der Schulter, einen ganzen Monat ausſtehen muſte. Dagegen kehrt die Natur bei den Bewegungen das Geſetze um. Denn wenn ein Nervenſtamm gereitzt wor- den, welcher vielen Muskeln Aeſte giebt, ſo gerathen alle dieſe Muskeln in Kraͤmpfe. Und im Gegentheil, wenn der Nerve eines ſolchen Muskels Reitze empfaͤngt, ſo wird der Krampf, vermoͤge der Verſuche, welche man an lebendigen Thieren gemacht hat, zu keinem andern dieſer Muskeln uͤbergehen l. Wir wollen dieſen Erſcheinungen nachdenken. Wenn die Nervenfaͤſergen, den Eindruck des Sinnli- chen, k p. 320. l Die Staͤrke dieſes Beweiſes hat bereits Ariſtoteles erfunden, und Caeſalpinus quaeſt. Perip. L. IV. c. 3. p. 104.

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Zitationshilfe: Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 4. Berlin, 1768, S. 571. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende04_1768/607>, abgerufen am 22.11.2024.