[Schlözer, August Ludwig von]: Neuverändertes Rußland oder Leben Catharinä der Zweyten Kayserinn von Rußland. Bd. 2. Riga u. a., 1772.in Moskau. schuldigen Geschöpfen, die dergleichen Menschen-liebe und Mitleiden erfodern, hülfliche Hand zu bie- ten? denn Sie, verehrungswürdige Leserinnen, deren Herzen bei der Not des Nächsten von Mit- leiden vorzüglich durchdrungen werden, stellen Sie sich nach der ihrem Geschlechte eigenen zärtlichen Denkungsart vor, ob wol etwas erschrecklicheres seyn könne, als der Zustand einer armen Frau, die zur Zeit ihrer Entbindung von aller Hülfe entfernt, und von jedermann verlassen ist. Und was ist wol bejammernswürdiger, als der Anblick eines un- schuldigen Kindes, welches da es erst auf die Welt kömmt, des unentberlichsten Beistandes beraubt ist, und seinem frühzeitigen Untergange auf keine Weise entgehen kan. Muß ein solcher Anblick das Herz der Menschen nicht zum größten Mitleiden bewe- gen? Hat nicht ein jeder Ursache, seine Mildthä- tigkeit, die er nach seinen Kräften und Vermögen einrichtet, für die vornemste Wirkung eines christ- lichen Erbarmens und für das verdienstlichste Werk zu halten? Jst dieses nicht der sicherste Weg, von Gott dem besten Vergelter Gnade für sich zu erlan- gen? dergleichen allgemeine, Jhrem zärtlichen Ge- schlecht aber, verehrungswürdige Leserinnen, be- sonders eigene Empfindungen und Betrachtungen müssen noch viel lebhafter seyn, als ich sie schildere. Jch lebe daher der zuversichtlichen Hoffnung, daß viele fromme Herzen dem hohen Beispiel unsrer al- ler-
in Moſkau. ſchuldigen Geſchoͤpfen, die dergleichen Menſchen-liebe und Mitleiden erfodern, huͤlfliche Hand zu bie- ten? denn Sie, verehrungswuͤrdige Leſerinnen, deren Herzen bei der Not des Naͤchſten von Mit- leiden vorzuͤglich durchdrungen werden, ſtellen Sie ſich nach der ihrem Geſchlechte eigenen zaͤrtlichen Denkungsart vor, ob wol etwas erſchrecklicheres ſeyn koͤnne, als der Zuſtand einer armen Frau, die zur Zeit ihrer Entbindung von aller Huͤlfe entfernt, und von jedermann verlaſſen iſt. Und was iſt wol bejammernswuͤrdiger, als der Anblick eines un- ſchuldigen Kindes, welches da es erſt auf die Welt koͤmmt, des unentberlichſten Beiſtandes beraubt iſt, und ſeinem fruͤhzeitigen Untergange auf keine Weiſe entgehen kan. Muß ein ſolcher Anblick das Herz der Menſchen nicht zum groͤßten Mitleiden bewe- gen? Hat nicht ein jeder Urſache, ſeine Mildthaͤ- tigkeit, die er nach ſeinen Kraͤften und Vermoͤgen einrichtet, fuͤr die vornemſte Wirkung eines chriſt- lichen Erbarmens und fuͤr das verdienſtlichſte Werk zu halten? Jſt dieſes nicht der ſicherſte Weg, von Gott dem beſten Vergelter Gnade fuͤr ſich zu erlan- gen? dergleichen allgemeine, Jhrem zaͤrtlichen Ge- ſchlecht aber, verehrungswuͤrdige Leſerinnen, be- ſonders eigene Empfindungen und Betrachtungen muͤſſen noch viel lebhafter ſeyn, als ich ſie ſchildere. Jch lebe daher der zuverſichtlichen Hoffnung, daß viele fromme Herzen dem hohen Beiſpiel unſrer al- ler-
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in Moſkau.
ſchuldigen Geſchoͤpfen, die dergleichen Menſchen-
liebe und Mitleiden erfodern, huͤlfliche Hand zu bie-
ten? denn Sie, verehrungswuͤrdige Leſerinnen,
deren Herzen bei der Not des Naͤchſten von Mit-
leiden vorzuͤglich durchdrungen werden, ſtellen Sie
ſich nach der ihrem Geſchlechte eigenen zaͤrtlichen
Denkungsart vor, ob wol etwas erſchrecklicheres
ſeyn koͤnne, als der Zuſtand einer armen Frau, die
zur Zeit ihrer Entbindung von aller Huͤlfe entfernt,
und von jedermann verlaſſen iſt. Und was iſt wol
bejammernswuͤrdiger, als der Anblick eines un-
ſchuldigen Kindes, welches da es erſt auf die Welt
koͤmmt, des unentberlichſten Beiſtandes beraubt iſt,
und ſeinem fruͤhzeitigen Untergange auf keine Weiſe
entgehen kan. Muß ein ſolcher Anblick das Herz
der Menſchen nicht zum groͤßten Mitleiden bewe-
gen? Hat nicht ein jeder Urſache, ſeine Mildthaͤ-
tigkeit, die er nach ſeinen Kraͤften und Vermoͤgen
einrichtet, fuͤr die vornemſte Wirkung eines chriſt-
lichen Erbarmens und fuͤr das verdienſtlichſte Werk
zu halten? Jſt dieſes nicht der ſicherſte Weg, von
Gott dem beſten Vergelter Gnade fuͤr ſich zu erlan-
gen? dergleichen allgemeine, Jhrem zaͤrtlichen Ge-
ſchlecht aber, verehrungswuͤrdige Leſerinnen, be-
ſonders eigene Empfindungen und Betrachtungen
muͤſſen noch viel lebhafter ſeyn, als ich ſie ſchildere.
Jch lebe daher der zuverſichtlichen Hoffnung, daß
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