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Hagedorn, Friedrich von: Sammlung Neuer Oden und Lieder. Bd. 2. Hamburg, 1744.

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So läßt auch Nonnus36 den Emathion und die Harmonia durch
die Lieder ihrer Mutter, der Electra, einschlummern.

Sie braucht der Ammen Kunst, singt beider Kinder Ohr
Ein süsses Liedchen vor.
Dies Liedchen lockt den Schlaf, er kömmt, und beide Brüder
Verschliessen schon die Augenlieder.

Zu den Liedern der Säug-Ammen könnte man wol die Lieder der
Kinder hinzufügen. Lala war ihr ordentlicher Gesang unter den Grie-
chen, so wie bey den Römern, und noch itzo bey uns. Lala ist ein Gesang,
den wir von den Kindern hören, saget Lucian.37

Von dem Liede der Bader. Die Bader hatten auch besondere Lie-
der, saget Athenäus,38 wie Crates in den Kühnen angemerket hat. Es
hatten also die Leute, welche in den Bädern aufwarteten, die Freiheit
zu singen. Aber denenjenigen, welche sich badeten, erlaubte der Wol-
stand dieses nicht. Wenn daher Theophrast39 einen ungeschliffenen
Menschen abmahlen will, so saget er von ihm, daß er im Bade sünge.

Von dem Liede auf die Erigone. Dieses wurde, wie Athenäus40
meldet, an dem Eoren- oder Schaukel-Feste gesungen, und Aletis, oder
das herumschweifende, das fliegende Lied genannt. Erigone41 war eine
Tochter des Jcarius, der den Oebalus zum Vater gehabt, und eine Nichte
des Castors und Pollux. Jhr Vater verlor sich auf einmal, und sie
suchte ihn mit vieler Mühe. Wie sie endlich erfuhr, daß er getödtet
wäre, so gerieth sie in Verzweifelung, und erhenkte sich selbst. Nicht
lange darauf wütete die Pest im attischen Gebiete; und als man das
Orakel darüber um Rath gefraget hatte, so setzten die Athenienser, nach
dem Befehle desselben, zum Andenken der Erigone, das Eoren-Fest und
das Lied Aletis ein.

Von den Liedern des Theodorus. Hievon finden wir dieses bey
dem Athenäus.42 "Aristoteles schreibt in seinem Buche von der Repu-
"blik Colophon, daß Theodorus eines gewaltsamen Todes gestorben sey;
"er solle ein liederlicher Mensch gewesen seyn, und dieses könne man auch
"aus seinen Gedichten sehen; denn die Weiber pflegten noch an dem
"Eoren-Feste seine Lieder zu singen."

Von den Julen der Ceres und Proserpina. So hiessen die Lieder,43
welche diesen beiden Gottheiten besonders gewidmet waren. Didymus

hatte
36 Nonn. Dionys. lib. III.
37 Lucian in Philopseude.
38 Athen. lib. XIV. c. 3.
39 Theophr. Charact. cap. 4.
40 Athen. loc. cit.
41 Hygin. lib. II. in Arctophyl. &
lib. I. fab. 130. Nonn. Dionys. 1. XLVII.
Leopard. cap. 146. Mercurial. L. de
Gymnast.
42 Athen. loc. cit.
43 Athen. l. XIV. c. 3.
E 2

So laͤßt auch Nonnus36 den Emathion und die Harmonia durch
die Lieder ihrer Mutter, der Electra, einſchlummern.

Sie braucht der Ammen Kunſt, ſingt beider Kinder Ohr
Ein ſuͤſſes Liedchen vor.
Dies Liedchen lockt den Schlaf, er koͤmmt, und beide Bruͤder
Verſchlieſſen ſchon die Augenlieder.

Zu den Liedern der Saͤug-Ammen koͤnnte man wol die Lieder der
Kinder hinzufuͤgen. Lala war ihr ordentlicher Geſang unter den Grie-
chen, ſo wie bey den Roͤmern, und noch itzo bey uns. Lala iſt ein Geſang,
den wir von den Kindern hoͤren, ſaget Lucian.37

Von dem Liede der Bader. Die Bader hatten auch beſondere Lie-
der, ſaget Athenaͤus,38 wie Crates in den Kuͤhnen angemerket hat. Es
hatten alſo die Leute, welche in den Baͤdern aufwarteten, die Freiheit
zu ſingen. Aber denenjenigen, welche ſich badeten, erlaubte der Wol-
ſtand dieſes nicht. Wenn daher Theophraſt39 einen ungeſchliffenen
Menſchen abmahlen will, ſo ſaget er von ihm, daß er im Bade ſuͤnge.

Von dem Liede auf die Erigone. Dieſes wurde, wie Athenaͤus40
meldet, an dem Eoren- oder Schaukel-Feſte geſungen, und Aletis, oder
das herumſchweifende, das fliegende Lied genannt. Erigone41 war eine
Tochter des Jcarius, der den Oebalus zum Vater gehabt, und eine Nichte
des Caſtors und Pollux. Jhr Vater verlor ſich auf einmal, und ſie
ſuchte ihn mit vieler Muͤhe. Wie ſie endlich erfuhr, daß er getoͤdtet
waͤre, ſo gerieth ſie in Verzweifelung, und erhenkte ſich ſelbſt. Nicht
lange darauf wuͤtete die Peſt im attiſchen Gebiete; und als man das
Orakel daruͤber um Rath gefraget hatte, ſo ſetzten die Athenienſer, nach
dem Befehle deſſelben, zum Andenken der Erigone, das Eoren-Feſt und
das Lied Aletis ein.

Von den Liedern des Theodorus. Hievon finden wir dieſes bey
dem Athenaͤus.42 “Ariſtoteles ſchreibt in ſeinem Buche von der Repu-
„blik Colophon, daß Theodorus eines gewaltſamen Todes geſtorben ſey;
„er ſolle ein liederlicher Menſch geweſen ſeyn, und dieſes koͤnne man auch
„aus ſeinen Gedichten ſehen; denn die Weiber pflegten noch an dem
„Eoren-Feſte ſeine Lieder zu ſingen.”

Von den Julen der Ceres und Proſerpina. So hieſſen die Lieder,43
welche dieſen beiden Gottheiten beſonders gewidmet waren. Didymus

hatte
36 Nonn. Dionyſ. lib. III.
37 Lucian in Philopſeude.
38 Athen. lib. XIV. c. 3.
39 Theophr. Charact. cap. 4.
40 Athen. loc. cit.
41 Hygin. lib. II. in Arctophyl. &
lib. I. fab. 130. Nonn. Dionyſ. 1. XLVII.
Leopard. cap. 146. Mercurial. L. de
Gymnaſt.
42 Athen. loc. cit.
43 Athen. l. XIV. c. 3.
E 2
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[35/0045] So laͤßt auch Nonnus 36 den Emathion und die Harmonia durch die Lieder ihrer Mutter, der Electra, einſchlummern. Sie braucht der Ammen Kunſt, ſingt beider Kinder Ohr Ein ſuͤſſes Liedchen vor. Dies Liedchen lockt den Schlaf, er koͤmmt, und beide Bruͤder Verſchlieſſen ſchon die Augenlieder. Zu den Liedern der Saͤug-Ammen koͤnnte man wol die Lieder der Kinder hinzufuͤgen. Lala war ihr ordentlicher Geſang unter den Grie- chen, ſo wie bey den Roͤmern, und noch itzo bey uns. Lala iſt ein Geſang, den wir von den Kindern hoͤren, ſaget Lucian. 37 Von dem Liede der Bader. Die Bader hatten auch beſondere Lie- der, ſaget Athenaͤus, 38 wie Crates in den Kuͤhnen angemerket hat. Es hatten alſo die Leute, welche in den Baͤdern aufwarteten, die Freiheit zu ſingen. Aber denenjenigen, welche ſich badeten, erlaubte der Wol- ſtand dieſes nicht. Wenn daher Theophraſt 39 einen ungeſchliffenen Menſchen abmahlen will, ſo ſaget er von ihm, daß er im Bade ſuͤnge. Von dem Liede auf die Erigone. Dieſes wurde, wie Athenaͤus 40 meldet, an dem Eoren- oder Schaukel-Feſte geſungen, und Aletis, oder das herumſchweifende, das fliegende Lied genannt. Erigone 41 war eine Tochter des Jcarius, der den Oebalus zum Vater gehabt, und eine Nichte des Caſtors und Pollux. Jhr Vater verlor ſich auf einmal, und ſie ſuchte ihn mit vieler Muͤhe. Wie ſie endlich erfuhr, daß er getoͤdtet waͤre, ſo gerieth ſie in Verzweifelung, und erhenkte ſich ſelbſt. Nicht lange darauf wuͤtete die Peſt im attiſchen Gebiete; und als man das Orakel daruͤber um Rath gefraget hatte, ſo ſetzten die Athenienſer, nach dem Befehle deſſelben, zum Andenken der Erigone, das Eoren-Feſt und das Lied Aletis ein. Von den Liedern des Theodorus. Hievon finden wir dieſes bey dem Athenaͤus. 42 “Ariſtoteles ſchreibt in ſeinem Buche von der Repu- „blik Colophon, daß Theodorus eines gewaltſamen Todes geſtorben ſey; „er ſolle ein liederlicher Menſch geweſen ſeyn, und dieſes koͤnne man auch „aus ſeinen Gedichten ſehen; denn die Weiber pflegten noch an dem „Eoren-Feſte ſeine Lieder zu ſingen.” Von den Julen der Ceres und Proſerpina. So hieſſen die Lieder, 43 welche dieſen beiden Gottheiten beſonders gewidmet waren. Didymus hatte 36 Nonn. Dionyſ. lib. III. 37 Lucian in Philopſeude. 38 Athen. lib. XIV. c. 3. 39 Theophr. Charact. cap. 4. 40 Athen. loc. cit. 41 Hygin. lib. II. in Arctophyl. & lib. I. fab. 130. Nonn. Dionyſ. 1. XLVII. Leopard. cap. 146. Mercurial. L. de Gymnaſt. 42 Athen. loc. cit. 43 Athen. l. XIV. c. 3. E 2

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Zitationshilfe: Hagedorn, Friedrich von: Sammlung Neuer Oden und Lieder. Bd. 2. Hamburg, 1744, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hagedorn_sammlung02_1744/45>, abgerufen am 20.04.2024.