Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.IV. Gasträa-Theorie. nächst aus dem befruchteten Ei hervorgeht, und welche allein ausdiesen beiden primären Keimblättern besteht, nannte ich Darm- larve oder Becherkeim (Gastrula); ihr becherförmiger zwei- schichtiger Körper umschließt ursprünglich eine einfache ver- dauende Höhle, den Urdarm (Progaster oder Archenteron), und dessen einfache Oeffnung ist der Urmund (Prostoma oder Blastoporus). Dies sind die ältesten Organe des vielzelligen Thierkörpers, und die beiden Zellenschichten seiner Wand, einfache Epithelien, sind seine ältesten Gewebe; alle anderen Organe und Gewebe sind erst später (sekundär) daraus hervorgegangen. VI. Aus dieser Gleichartigkeit oder Homologie der Gastrula in sämmtlichen Stämmen und Klassen der Gewebthiere zog ich nach dem biogenetischen Grundgesetze (S. 93) den Schluß, daß alle Metazoen ursprünglich von einer gemeinsamen Stammform abstammen, Gasträa, und daß diese uralte (laurentische), längst ausgestorbene Stammform im Wesentlichen die Körperform und Zusammensetzung der heutigen, durch Ver- erbung erhaltenen Gastrula besaß. VII. Dieser phylo- genetische Schluß aus der Vergleichung der ontogenetischen That- sachen wird auch dadurch gerechtfertigt, daß noch heute einzelne Gasträaden existiren (Gastremarien, Cyemarien, Physe- marien), sowie älteste Formen anderer Thierstämme, deren Orga- nisation sich nur sehr wenig über diese Letzteren erhebt (Olyn- thus unter den Spongien, Hydra, der gemeine Süßwasser- Polyp, unter den Nesselthieren, Convoluta und andere Krypto- coelen, als einfachste Strudelwürmer, unter den Plattenthieren). VIII. Bei der weiteren Entwickelung der verschiedenen Geweb- thiere aus der Gastrula sind zwei verschiedene Hauptgruppen zu unterscheiden: Die älteren Niederthiere (Coelenteria oder Acoelomia) bilden noch keine Leibeshöhle und besitzen weder Blut noch After; das ist der Fall bei den Gasträaden, Spongien, Nesselthieren und Plattenthieren. Die jüngeren Oberthiere IV. Gaſträa-Theorie. nächſt aus dem befruchteten Ei hervorgeht, und welche allein ausdieſen beiden primären Keimblättern beſteht, nannte ich Darm- larve oder Becherkeim (Gaſtrula); ihr becherförmiger zwei- ſchichtiger Körper umſchließt urſprünglich eine einfache ver- dauende Höhle, den Urdarm (Progaſter oder Archenteron), und deſſen einfache Oeffnung iſt der Urmund (Proſtoma oder Blaſtoporuſ). Dies ſind die älteſten Organe des vielzelligen Thierkörpers, und die beiden Zellenſchichten ſeiner Wand, einfache Epithelien, ſind ſeine älteſten Gewebe; alle anderen Organe und Gewebe ſind erſt ſpäter (ſekundär) daraus hervorgegangen. VI. Aus dieſer Gleichartigkeit oder Homologie der Gaſtrula in ſämmtlichen Stämmen und Klaſſen der Gewebthiere zog ich nach dem biogenetiſchen Grundgeſetze (S. 93) den Schluß, daß alle Metazoen urſprünglich von einer gemeinſamen Stammform abſtammen, Gaſträa, und daß dieſe uralte (laurentiſche), längſt ausgeſtorbene Stammform im Weſentlichen die Körperform und Zuſammenſetzung der heutigen, durch Ver- erbung erhaltenen Gaſtrula beſaß. VII. Dieſer phylo- genetiſche Schluß aus der Vergleichung der ontogenetiſchen That- ſachen wird auch dadurch gerechtfertigt, daß noch heute einzelne Gaſträaden exiſtiren (Gaſtremarien, Cyemarien, Phyſe- marien), ſowie älteſte Formen anderer Thierſtämme, deren Orga- niſation ſich nur ſehr wenig über dieſe Letzteren erhebt (Olyn- thuſ unter den Spongien, Hydra, der gemeine Süßwaſſer- Polyp, unter den Neſſelthieren, Convoluta und andere Krypto- coelen, als einfachſte Strudelwürmer, unter den Plattenthieren). VIII. Bei der weiteren Entwickelung der verſchiedenen Geweb- thiere aus der Gaſtrula ſind zwei verſchiedene Hauptgruppen zu unterſcheiden: Die älteren Niederthiere (Coelenteria oder Acoelomia) bilden noch keine Leibeshöhle und beſitzen weder Blut noch After; das iſt der Fall bei den Gaſträaden, Spongien, Neſſelthieren und Plattenthieren. 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IV. Gaſträa-Theorie.
nächſt aus dem befruchteten Ei hervorgeht, und welche allein aus
dieſen beiden primären Keimblättern beſteht, nannte ich Darm-
larve oder Becherkeim (Gaſtrula); ihr becherförmiger zwei-
ſchichtiger Körper umſchließt urſprünglich eine einfache ver-
dauende Höhle, den Urdarm (Progaſter oder Archenteron),
und deſſen einfache Oeffnung iſt der Urmund (Proſtoma oder
Blaſtoporuſ). Dies ſind die älteſten Organe des vielzelligen
Thierkörpers, und die beiden Zellenſchichten ſeiner Wand, einfache
Epithelien, ſind ſeine älteſten Gewebe; alle anderen Organe und
Gewebe ſind erſt ſpäter (ſekundär) daraus hervorgegangen.
VI. Aus dieſer Gleichartigkeit oder Homologie der Gaſtrula
in ſämmtlichen Stämmen und Klaſſen der Gewebthiere zog ich nach
dem biogenetiſchen Grundgeſetze (S. 93) den Schluß, daß alle
Metazoen urſprünglich von einer gemeinſamen
Stammform abſtammen, Gaſträa, und daß dieſe uralte
(laurentiſche), längſt ausgeſtorbene Stammform im Weſentlichen
die Körperform und Zuſammenſetzung der heutigen, durch Ver-
erbung erhaltenen Gaſtrula beſaß. VII. Dieſer phylo-
genetiſche Schluß aus der Vergleichung der ontogenetiſchen That-
ſachen wird auch dadurch gerechtfertigt, daß noch heute einzelne
Gaſträaden exiſtiren (Gaſtremarien, Cyemarien, Phyſe-
marien), ſowie älteſte Formen anderer Thierſtämme, deren Orga-
niſation ſich nur ſehr wenig über dieſe Letzteren erhebt (Olyn-
thuſ unter den Spongien, Hydra, der gemeine Süßwaſſer-
Polyp, unter den Neſſelthieren, Convoluta und andere Krypto-
coelen, als einfachſte Strudelwürmer, unter den Plattenthieren).
VIII. Bei der weiteren Entwickelung der verſchiedenen Geweb-
thiere aus der Gaſtrula ſind zwei verſchiedene Hauptgruppen
zu unterſcheiden: Die älteren Niederthiere (Coelenteria oder
Acoelomia) bilden noch keine Leibeshöhle und beſitzen weder
Blut noch After; das iſt der Fall bei den Gaſträaden, Spongien,
Neſſelthieren und Plattenthieren. Die jüngeren Oberthiere
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