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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Menschliche Physiologie im Mittelalter. III.
diesem, wie auf allen anderen Gebieten, der Naturerkenntniß die
unüberwindlichsten Hindernisse. Vom dritten bis zum sechzehnten
Jahrhundert trat kein einziger Forscher auf, der gewagt hätte,
selbständig wieder die Lebensthätigkeiten des Menschen zu unter-
suchen und über den Bezirk des Systems von Galenus hinaus-
zugehen. Erst im 16. Jahrhundert wurden dazu mehrere be-
scheidene Versuche von angesehenen Aerzten und Anatomen
gemacht (Paracelsus, Servetus, Besalius u. A.). Aber
erst im Jahre 1628 veröffentlichte der englische Arzt Harvey
seine große Entdeckung des Blutkreislaufs und wies nach,
daß das Herz ein Pumpwerk ist, welches durch die regelmäßige,
unbewußte Zusammenziehung seiner Muskeln die Blutwelle un-
ablässig durch das communicirende Röhrensystem der Adern oder
Blutgefäße treibt. Nicht minder wichtig waren Harvey's
Untersuchungen über die Zeugung der Thiere, in Folge deren
er den berühmten Satz aufstellte: "Alles Lebendige entwickelt sich
aus einem Ei" (omne vivum ex ovo).

Die mächtige Anregung zu physiologischen Beobachtungen
und Versuchen, welche Harvey gegeben hatte, führte im 16.
und 17. Jahrhundert zu einer großen Anzahl von Entdeckungen.
Diese faßte der Gelehrte Albrecht Haller um die Mitte
des vorigen Jahrhunderts zum ersten Male zusammen; in seinem
großen Werke "Elementa physiologiae" begründete er den selb-
ständigen Werth dieser Wissenschaft und nicht nur in ihrer Be-
ziehung zur praktischen Medicin. Indem aber Haller für die
Nerven-Thätigkeit eine besondere "Empfindungskraft oder Sen-
sibilität", und ebenso für die Muskel-Bewegung eine besondere
"Reizbarkeit oder Irritabilität" als Ursache annahm, lieferte er
mächtige Stützen für die irrthümliche Lehre von einer eigen-
thümlichen "Lebenskraft" (Vis vitalis).

Lebenskraft (Vitalismus). Ueber ein volles Jahrhundert
hindurch, von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahr-

Menſchliche Phyſiologie im Mittelalter. III.
dieſem, wie auf allen anderen Gebieten, der Naturerkenntniß die
unüberwindlichſten Hinderniſſe. Vom dritten bis zum ſechzehnten
Jahrhundert trat kein einziger Forſcher auf, der gewagt hätte,
ſelbſtändig wieder die Lebensthätigkeiten des Menſchen zu unter-
ſuchen und über den Bezirk des Syſtems von Galenus hinaus-
zugehen. Erſt im 16. Jahrhundert wurden dazu mehrere be-
ſcheidene Verſuche von angeſehenen Aerzten und Anatomen
gemacht (Paracelſus, Servetus, Beſalius u. A.). Aber
erſt im Jahre 1628 veröffentlichte der engliſche Arzt Harvey
ſeine große Entdeckung des Blutkreislaufs und wies nach,
daß das Herz ein Pumpwerk iſt, welches durch die regelmäßige,
unbewußte Zuſammenziehung ſeiner Muskeln die Blutwelle un-
abläſſig durch das communicirende Röhrenſyſtem der Adern oder
Blutgefäße treibt. Nicht minder wichtig waren Harvey's
Unterſuchungen über die Zeugung der Thiere, in Folge deren
er den berühmten Satz aufſtellte: „Alles Lebendige entwickelt ſich
aus einem Ei“ (omne vivum ex ovo).

Die mächtige Anregung zu phyſiologiſchen Beobachtungen
und Verſuchen, welche Harvey gegeben hatte, führte im 16.
und 17. Jahrhundert zu einer großen Anzahl von Entdeckungen.
Dieſe faßte der Gelehrte Albrecht Haller um die Mitte
des vorigen Jahrhunderts zum erſten Male zuſammen; in ſeinem
großen Werke „Elementa phyſiologiae“ begründete er den ſelb-
ſtändigen Werth dieſer Wiſſenſchaft und nicht nur in ihrer Be-
ziehung zur praktiſchen Medicin. Indem aber Haller für die
Nerven-Thätigkeit eine beſondere „Empfindungskraft oder Sen-
ſibilität“, und ebenſo für die Muskel-Bewegung eine beſondere
„Reizbarkeit oder Irritabilität“ als Urſache annahm, lieferte er
mächtige Stützen für die irrthümliche Lehre von einer eigen-
thümlichen „Lebenskraft(Viſ vitaliſ).

Lebenskraft (Vitaliſmuſ). Ueber ein volles Jahrhundert
hindurch, von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahr-

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[50/0066] Menſchliche Phyſiologie im Mittelalter. III. dieſem, wie auf allen anderen Gebieten, der Naturerkenntniß die unüberwindlichſten Hinderniſſe. Vom dritten bis zum ſechzehnten Jahrhundert trat kein einziger Forſcher auf, der gewagt hätte, ſelbſtändig wieder die Lebensthätigkeiten des Menſchen zu unter- ſuchen und über den Bezirk des Syſtems von Galenus hinaus- zugehen. Erſt im 16. Jahrhundert wurden dazu mehrere be- ſcheidene Verſuche von angeſehenen Aerzten und Anatomen gemacht (Paracelſus, Servetus, Beſalius u. A.). Aber erſt im Jahre 1628 veröffentlichte der engliſche Arzt Harvey ſeine große Entdeckung des Blutkreislaufs und wies nach, daß das Herz ein Pumpwerk iſt, welches durch die regelmäßige, unbewußte Zuſammenziehung ſeiner Muskeln die Blutwelle un- abläſſig durch das communicirende Röhrenſyſtem der Adern oder Blutgefäße treibt. Nicht minder wichtig waren Harvey's Unterſuchungen über die Zeugung der Thiere, in Folge deren er den berühmten Satz aufſtellte: „Alles Lebendige entwickelt ſich aus einem Ei“ (omne vivum ex ovo). Die mächtige Anregung zu phyſiologiſchen Beobachtungen und Verſuchen, welche Harvey gegeben hatte, führte im 16. und 17. Jahrhundert zu einer großen Anzahl von Entdeckungen. Dieſe faßte der Gelehrte Albrecht Haller um die Mitte des vorigen Jahrhunderts zum erſten Male zuſammen; in ſeinem großen Werke „Elementa phyſiologiae“ begründete er den ſelb- ſtändigen Werth dieſer Wiſſenſchaft und nicht nur in ihrer Be- ziehung zur praktiſchen Medicin. Indem aber Haller für die Nerven-Thätigkeit eine beſondere „Empfindungskraft oder Sen- ſibilität“, und ebenſo für die Muskel-Bewegung eine beſondere „Reizbarkeit oder Irritabilität“ als Urſache annahm, lieferte er mächtige Stützen für die irrthümliche Lehre von einer eigen- thümlichen „Lebenskraft“ (Viſ vitaliſ). Lebenskraft (Vitaliſmuſ). Ueber ein volles Jahrhundert hindurch, von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahr-

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/66>, abgerufen am 30.04.2024.