Vivisektionen von Affen, Hunden und Schweinen stellte er ver- schiedene interessante Versuche an. Die Vivisektionen sind neuerdings nicht nur von unwissenden und beschränkten Leuten, sondern auch von wissensfeindlichen Theologen und von gefühls- seligen Gemüthsmenschen vielfach auf das Heftigste angegriffen worden; sie gehören aber zu den unentbehrlichen Metho- den der Lebens-Forschung und haben uns unschätzbare Auf- schlüsse über die wichtigsten Fragen gegeben; diese Thatsache wurde schon vor 1700 Jahren von Galenus erkannt.
Alle verschiedenen Funktionen des Körpers führt Galenus auf drei Hauptgruppen zurück, entsprechend den drei Formen des Pneuma, des Lebensgeistes oder "Spiritus". Das Pneuma psychicon -- die "Seele" -- hat ihren Sitz im Gehirn und den Nerven, sie vermittelt das Denken, Empfinden und den Willen (die willkürliche Bewegung); das Pneuma zoticon -- das "Herz" -- bewirkt die "sphygmischen Functionen", den Herzschlag, Puls und die Wärmebildung; das Pneuma physicon endlich, in der Leber befindlich, ist die Ursache der sogenannten vegetativen Lebensthätigkeiten, der Ernährung und des Stoff- wechsels, des Wachsthums und der Fortpflanzung. Dabei legte er besonders Gewicht auf die Erneuerung des Blutes in den Lungen und sprach die Hoffnung aus, daß es einst gelingen werde, aus der atmosphärischen Luft den Bestandtheil auszu- scheiden, welcher als Pneuma bei der Athmung in das Blut aufgenommen werde. Mehr als fünfzehn Jahrhunderte verflossen, ehe dieses Respirations-Pneuma -- der Sauerstoff -- durch Lavoisier entdeckt wurde.
Ebenso wie für die Anatomie des Menschen so blieb auch für seine Physiologie das großartige System des Galenus während des langen Zeitraums von dreizehn Jahrhunderten der Codex aureus, die unantastbare Quelle aller Kenntnisse. Der kulturfeindliche Einfluß des Christenthums bereitete auch auf
Haeckel. Welträthsel. 4
III. Menſchliche Phyſiologie im Alterthum.
Viviſektionen von Affen, Hunden und Schweinen ſtellte er ver- ſchiedene intereſſante Verſuche an. Die Viviſektionen ſind neuerdings nicht nur von unwiſſenden und beſchränkten Leuten, ſondern auch von wiſſensfeindlichen Theologen und von gefühls- ſeligen Gemüthsmenſchen vielfach auf das Heftigſte angegriffen worden; ſie gehören aber zu den unentbehrlichen Metho- den der Lebens-Forſchung und haben uns unſchätzbare Auf- ſchlüſſe über die wichtigſten Fragen gegeben; dieſe Thatſache wurde ſchon vor 1700 Jahren von Galenus erkannt.
Alle verſchiedenen Funktionen des Körpers führt Galenus auf drei Hauptgruppen zurück, entſprechend den drei Formen des Pneuma, des Lebensgeiſtes oder „Spiritus“. Das Pneuma pſychicon — die „Seele“ — hat ihren Sitz im Gehirn und den Nerven, ſie vermittelt das Denken, Empfinden und den Willen (die willkürliche Bewegung); das Pneuma zoticon — das „Herz“ — bewirkt die „ſphygmiſchen Functionen“, den Herzſchlag, Puls und die Wärmebildung; das Pneuma phyſicon endlich, in der Leber befindlich, iſt die Urſache der ſogenannten vegetativen Lebensthätigkeiten, der Ernährung und des Stoff- wechſels, des Wachsthums und der Fortpflanzung. Dabei legte er beſonders Gewicht auf die Erneuerung des Blutes in den Lungen und ſprach die Hoffnung aus, daß es einſt gelingen werde, aus der atmoſphäriſchen Luft den Beſtandtheil auszu- ſcheiden, welcher als Pneuma bei der Athmung in das Blut aufgenommen werde. Mehr als fünfzehn Jahrhunderte verfloſſen, ehe dieſes Reſpirations-Pneuma — der Sauerſtoff — durch Lavoiſier entdeckt wurde.
Ebenſo wie für die Anatomie des Menſchen ſo blieb auch für ſeine Phyſiologie das großartige Syſtem des Galenus während des langen Zeitraums von dreizehn Jahrhunderten der Codex aureuſ, die unantaſtbare Quelle aller Kenntniſſe. Der kulturfeindliche Einfluß des Chriſtenthums bereitete auch auf
Haeckel. Welträthſel. 4
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0065"n="49"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">III.</hi> Menſchliche Phyſiologie im Alterthum.</fw><lb/>
Viviſektionen von Affen, Hunden und Schweinen ſtellte er ver-<lb/>ſchiedene intereſſante Verſuche an. Die <hirendition="#g">Viviſektionen</hi>ſind<lb/>
neuerdings nicht nur von unwiſſenden und beſchränkten Leuten,<lb/>ſondern auch von wiſſensfeindlichen Theologen und von gefühls-<lb/>ſeligen Gemüthsmenſchen vielfach auf das Heftigſte angegriffen<lb/>
worden; ſie gehören aber zu den <hirendition="#g">unentbehrlichen Metho-<lb/>
den</hi> der Lebens-Forſchung und haben uns unſchätzbare Auf-<lb/>ſchlüſſe über die wichtigſten Fragen gegeben; dieſe Thatſache<lb/>
wurde ſchon vor 1700 Jahren von <hirendition="#g">Galenus</hi> erkannt.</p><lb/><p>Alle verſchiedenen Funktionen des Körpers führt <hirendition="#g">Galenus</hi><lb/>
auf drei Hauptgruppen zurück, entſprechend den drei Formen<lb/>
des <hirendition="#g">Pneuma,</hi> des Lebensgeiſtes oder <hirendition="#aq">„Spiritus“</hi>. Das <hirendition="#aq">Pneuma<lb/>
pſychicon</hi>— die „Seele“— hat ihren Sitz im <hirendition="#g">Gehirn</hi> und<lb/>
den Nerven, ſie vermittelt das Denken, Empfinden und den<lb/>
Willen (die willkürliche Bewegung); das <hirendition="#aq">Pneuma zoticon</hi>—<lb/>
das „<hirendition="#g">Herz</hi>“— bewirkt die „ſphygmiſchen Functionen“, den<lb/>
Herzſchlag, Puls und die Wärmebildung; das <hirendition="#aq">Pneuma phyſicon</hi><lb/>
endlich, in der <hirendition="#g">Leber</hi> befindlich, iſt die Urſache der ſogenannten<lb/>
vegetativen Lebensthätigkeiten, der Ernährung und des Stoff-<lb/>
wechſels, des Wachsthums und der Fortpflanzung. Dabei legte<lb/>
er beſonders Gewicht auf die Erneuerung des Blutes in den<lb/>
Lungen und ſprach die Hoffnung aus, daß es einſt gelingen<lb/>
werde, aus der atmoſphäriſchen Luft den Beſtandtheil auszu-<lb/>ſcheiden, welcher als <hirendition="#aq">Pneuma</hi> bei der Athmung in das Blut<lb/>
aufgenommen werde. Mehr als fünfzehn Jahrhunderte verfloſſen,<lb/>
ehe dieſes Reſpirations-Pneuma — der Sauerſtoff — durch<lb/><hirendition="#g">Lavoiſier</hi> entdeckt wurde.</p><lb/><p>Ebenſo wie für die Anatomie des Menſchen ſo blieb auch<lb/>
für ſeine Phyſiologie das großartige Syſtem des <hirendition="#g">Galenus</hi><lb/>
während des langen Zeitraums von dreizehn Jahrhunderten der<lb/><hirendition="#aq">Codex aureuſ</hi>, die unantaſtbare Quelle aller Kenntniſſe. Der<lb/>
kulturfeindliche Einfluß des Chriſtenthums bereitete auch auf<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#g">Haeckel.</hi> Welträthſel. 4</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[49/0065]
III. Menſchliche Phyſiologie im Alterthum.
Viviſektionen von Affen, Hunden und Schweinen ſtellte er ver-
ſchiedene intereſſante Verſuche an. Die Viviſektionen ſind
neuerdings nicht nur von unwiſſenden und beſchränkten Leuten,
ſondern auch von wiſſensfeindlichen Theologen und von gefühls-
ſeligen Gemüthsmenſchen vielfach auf das Heftigſte angegriffen
worden; ſie gehören aber zu den unentbehrlichen Metho-
den der Lebens-Forſchung und haben uns unſchätzbare Auf-
ſchlüſſe über die wichtigſten Fragen gegeben; dieſe Thatſache
wurde ſchon vor 1700 Jahren von Galenus erkannt.
Alle verſchiedenen Funktionen des Körpers führt Galenus
auf drei Hauptgruppen zurück, entſprechend den drei Formen
des Pneuma, des Lebensgeiſtes oder „Spiritus“. Das Pneuma
pſychicon — die „Seele“ — hat ihren Sitz im Gehirn und
den Nerven, ſie vermittelt das Denken, Empfinden und den
Willen (die willkürliche Bewegung); das Pneuma zoticon —
das „Herz“ — bewirkt die „ſphygmiſchen Functionen“, den
Herzſchlag, Puls und die Wärmebildung; das Pneuma phyſicon
endlich, in der Leber befindlich, iſt die Urſache der ſogenannten
vegetativen Lebensthätigkeiten, der Ernährung und des Stoff-
wechſels, des Wachsthums und der Fortpflanzung. Dabei legte
er beſonders Gewicht auf die Erneuerung des Blutes in den
Lungen und ſprach die Hoffnung aus, daß es einſt gelingen
werde, aus der atmoſphäriſchen Luft den Beſtandtheil auszu-
ſcheiden, welcher als Pneuma bei der Athmung in das Blut
aufgenommen werde. Mehr als fünfzehn Jahrhunderte verfloſſen,
ehe dieſes Reſpirations-Pneuma — der Sauerſtoff — durch
Lavoiſier entdeckt wurde.
Ebenſo wie für die Anatomie des Menſchen ſo blieb auch
für ſeine Phyſiologie das großartige Syſtem des Galenus
während des langen Zeitraums von dreizehn Jahrhunderten der
Codex aureuſ, die unantaſtbare Quelle aller Kenntniſſe. Der
kulturfeindliche Einfluß des Chriſtenthums bereitete auch auf
Haeckel. Welträthſel. 4
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/65>, abgerufen am 23.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.