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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Vergleichende Anatomie. II.
legenden "Lecons sur l'Anatomie comparee" herausgab und
damit zum ersten Male bestimmte Gesetze über den Körperbau
des Menschen und der Thiere festzustellen suchte. Während seine
Vorläufer -- unter ihnen auch Goethe 1790 -- hauptsächlich
nur das Knochengerüste des Menschen mit demjenigen der
übrigen Säugethiere eingehend verglichen hatten, umfaßte
Cuvier's weiter Blick die Gesammtheit der thierischen Orga-
nisation; er unterschied in derselben vier große, von einander
unabhängige Hauptformen oder Typen: Wirbelthiere (Verte-
brata)
, Gliederthiere (Articulata), Weichthiere (Mollusca) und
Strahlthiere (Radiata). Für die "Frage aller Fragen" war
dieser Fortschritt insofern epochemachend, als damit klar die
Zugehörigkeit des Menschen zum Typus der Wirbelthiere
-- sowie seine Grundverschiedenheit von allen anderen Typen --
ausgesprochen war. Allerdings hatte schon der scharfblickende
Linne in seinem ersten "Systema naturae" (1735) einen be-
deutungsvollen Fortschritt damit gethan, daß er dem Menschen
definitiv seinen Platz in der Klasse der Säugethiere (Mam-
malia)
anwies; ja er vereinigte sogar in der Ordnung der
Herrenthiere (Primates) die drei Gruppen der Halbaffen,
Affen und Menschen (Lemur, Simia, Homo). Aber es fehlte
diesem kühnen, systematischen Griffe noch jene tiefere empirische
Begründung durch die vergleichende Anatomie, die erst Cuvier
herbeiführte. Diese fand ihre weitere Ausführung durch die
großen vergleichenden Anatomen unseres Jahrhunderts, durch
Friedrich Meckel (in Halle), Johannes Müller (in Berlin),
Richard Owen und Thomas Huxley (in England),
Carl Gegenbaur (in Jena, später in Heidelberg). Indem
dieser Letztere in seinen Grundzügen der vergleichenden Ana-
tomie (1870) zum ersten Male die durch Darwin neu be-
gründete Abstammungslehre auf jene Wissenschaft anwendete,
erhob er sie zum ersten Range unter den biologischen Disci-

Vergleichende Anatomie. II.
legenden „Leçonſ ſur l'Anatomie comparée“ herausgab und
damit zum erſten Male beſtimmte Geſetze über den Körperbau
des Menſchen und der Thiere feſtzuſtellen ſuchte. Während ſeine
Vorläufer — unter ihnen auch Goethe 1790 — hauptſächlich
nur das Knochengerüſte des Menſchen mit demjenigen der
übrigen Säugethiere eingehend verglichen hatten, umfaßte
Cuvier's weiter Blick die Geſammtheit der thieriſchen Orga-
niſation; er unterſchied in derſelben vier große, von einander
unabhängige Hauptformen oder Typen: Wirbelthiere (Verte-
brata)
, Gliederthiere (Articulata), Weichthiere (Molluſca) und
Strahlthiere (Radiata). Für die „Frage aller Fragen“ war
dieſer Fortſchritt inſofern epochemachend, als damit klar die
Zugehörigkeit des Menſchen zum Typus der Wirbelthiere
— ſowie ſeine Grundverſchiedenheit von allen anderen Typen —
ausgeſprochen war. Allerdings hatte ſchon der ſcharfblickende
Linné in ſeinem erſten „Syſtema naturae“ (1735) einen be-
deutungsvollen Fortſchritt damit gethan, daß er dem Menſchen
definitiv ſeinen Platz in der Klaſſe der Säugethiere (Mam-
malia)
anwies; ja er vereinigte ſogar in der Ordnung der
Herrenthiere (Primateſ) die drei Gruppen der Halbaffen,
Affen und Menſchen (Lemur, Simia, Homo). Aber es fehlte
dieſem kühnen, ſyſtematiſchen Griffe noch jene tiefere empiriſche
Begründung durch die vergleichende Anatomie, die erſt Cuvier
herbeiführte. Dieſe fand ihre weitere Ausführung durch die
großen vergleichenden Anatomen unſeres Jahrhunderts, durch
Friedrich Meckel (in Halle), Johannes Müller (in Berlin),
Richard Owen und Thomas Huxley (in England),
Carl Gegenbaur (in Jena, ſpäter in Heidelberg). Indem
dieſer Letztere in ſeinen Grundzügen der vergleichenden Ana-
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[30/0046] Vergleichende Anatomie. II. legenden „Leçonſ ſur l'Anatomie comparée“ herausgab und damit zum erſten Male beſtimmte Geſetze über den Körperbau des Menſchen und der Thiere feſtzuſtellen ſuchte. Während ſeine Vorläufer — unter ihnen auch Goethe 1790 — hauptſächlich nur das Knochengerüſte des Menſchen mit demjenigen der übrigen Säugethiere eingehend verglichen hatten, umfaßte Cuvier's weiter Blick die Geſammtheit der thieriſchen Orga- niſation; er unterſchied in derſelben vier große, von einander unabhängige Hauptformen oder Typen: Wirbelthiere (Verte- brata), Gliederthiere (Articulata), Weichthiere (Molluſca) und Strahlthiere (Radiata). Für die „Frage aller Fragen“ war dieſer Fortſchritt inſofern epochemachend, als damit klar die Zugehörigkeit des Menſchen zum Typus der Wirbelthiere — ſowie ſeine Grundverſchiedenheit von allen anderen Typen — ausgeſprochen war. Allerdings hatte ſchon der ſcharfblickende Linné in ſeinem erſten „Syſtema naturae“ (1735) einen be- deutungsvollen Fortſchritt damit gethan, daß er dem Menſchen definitiv ſeinen Platz in der Klaſſe der Säugethiere (Mam- malia) anwies; ja er vereinigte ſogar in der Ordnung der Herrenthiere (Primateſ) die drei Gruppen der Halbaffen, Affen und Menſchen (Lemur, Simia, Homo). Aber es fehlte dieſem kühnen, ſyſtematiſchen Griffe noch jene tiefere empiriſche Begründung durch die vergleichende Anatomie, die erſt Cuvier herbeiführte. Dieſe fand ihre weitere Ausführung durch die großen vergleichenden Anatomen unſeres Jahrhunderts, durch Friedrich Meckel (in Halle), Johannes Müller (in Berlin), Richard Owen und Thomas Huxley (in England), Carl Gegenbaur (in Jena, ſpäter in Heidelberg). Indem dieſer Letztere in ſeinen Grundzügen der vergleichenden Ana- tomie (1870) zum erſten Male die durch Darwin neu be- gründete Abſtammungslehre auf jene Wiſſenſchaft anwendete, erhob er ſie zum erſten Range unter den biologiſchen Disci-

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/46>, abgerufen am 23.11.2024.