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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Familien-Verachtung des Christenthums. XIX.
besitzt, d. h. gegen jenes naturgemäße Zusammenleben mit den
nächsten Blutsverwandten, welches für den normalen Menschen
ebenso unentbehrlich ist wie für alle höheren socialen Thiere.
Die "Familie" gilt uns ja mit Recht als die "Grundlage der
Gesellschaft" und das gesunde Familien-Leben als Vorbedingung
für ein blühendes Staatsleben. Ganz anderer Ansicht war
Christus, dessen nach dem "Jenseits" gerichteter Blick die Frau
und die Familie ebenso gering schätzte wie alle anderen Güter
des "Diesseits". Von den seltenen Berührungen mit seinen
Eltern und Geschwistern wissen die Evangelien nur sehr wenig
zu erzählen; das Verhältniß zu seiner Mutter Maria war danach
keineswegs so zart und innig, wie es uns Tausende von schönen
Bildern in poetischer Verklärung vorführen; er selbst war
nicht verheirathet. Die Geschlechts-Liebe, die doch die erste
Grundlage der Familien-Bildung ist, erschien Jesus eher wie
ein nothwendiges Uebel. Noch weiter ging darin sein eifrigster
Apostel, Paulus, der es für besser erklärte, nicht zu heirathen
als zu heirathen. "Es ist dem Menschen gut, daß er kein Weib
berühre" (I. Korinther 7, 1, 28-38). Wenn die Menschheit diesen
guten Rath befolgte, würde sie damit allerdings bald alles irdische
Leid und Elend loswerden; sie würde durch diese Radikal-Kur
innerhalb eines Jahrhunderts aussterben 15.

VI. Die Frauen-Verachtung des Christenthums.
Da Christus selbst die Frauenliebe nicht kannte, blieb ihm per-
sönlich jene feine Veredelung des wahren Menschenwesens fremd,
welche erst aus dem innigen Zusammenleben des Mannes mit
dem Weibe entspringt. Der intime sexuelle Verkehr, auf welchem
allein die Erhaltung des Menschengeschlechts beruht, ist dafür
ebenso wichtig wie die geistige Durchdringung beider Geschlechter
und die gegenseitige Ergänzung, die sich Beide gleicher Weise in
den praktischen Bedürfnissen des täglichen Lebens wie in den
höchsten idealen Funktionen der Seelenthätigkeit gewähren. Denn

Familien-Verachtung des Chriſtenthums. XIX.
beſitzt, d. h. gegen jenes naturgemäße Zuſammenleben mit den
nächſten Blutsverwandten, welches für den normalen Menſchen
ebenſo unentbehrlich iſt wie für alle höheren ſocialen Thiere.
Die „Familie“ gilt uns ja mit Recht als die „Grundlage der
Geſellſchaft“ und das geſunde Familien-Leben als Vorbedingung
für ein blühendes Staatsleben. Ganz anderer Anſicht war
Chriſtus, deſſen nach dem „Jenſeits“ gerichteter Blick die Frau
und die Familie ebenſo gering ſchätzte wie alle anderen Güter
des „Diesſeits“. Von den ſeltenen Berührungen mit ſeinen
Eltern und Geſchwiſtern wiſſen die Evangelien nur ſehr wenig
zu erzählen; das Verhältniß zu ſeiner Mutter Maria war danach
keineswegs ſo zart und innig, wie es uns Tauſende von ſchönen
Bildern in poetiſcher Verklärung vorführen; er ſelbſt war
nicht verheirathet. Die Geſchlechts-Liebe, die doch die erſte
Grundlage der Familien-Bildung iſt, erſchien Jeſus eher wie
ein nothwendiges Uebel. Noch weiter ging darin ſein eifrigſter
Apoſtel, Paulus, der es für beſſer erklärte, nicht zu heirathen
als zu heirathen. „Es iſt dem Menſchen gut, daß er kein Weib
berühre“ (I. Korinther 7, 1, 28-38). Wenn die Menſchheit dieſen
guten Rath befolgte, würde ſie damit allerdings bald alles irdiſche
Leid und Elend loswerden; ſie würde durch dieſe Radikal-Kur
innerhalb eines Jahrhunderts ausſterben 15.

VI. Die Frauen-Verachtung des Chriſtenthums.
Da Chriſtus ſelbſt die Frauenliebe nicht kannte, blieb ihm per-
ſönlich jene feine Veredelung des wahren Menſchenweſens fremd,
welche erſt aus dem innigen Zuſammenleben des Mannes mit
dem Weibe entſpringt. Der intime ſexuelle Verkehr, auf welchem
allein die Erhaltung des Menſchengeſchlechts beruht, iſt dafür
ebenſo wichtig wie die geiſtige Durchdringung beider Geſchlechter
und die gegenſeitige Ergänzung, die ſich Beide gleicher Weiſe in
den praktiſchen Bedürfniſſen des täglichen Lebens wie in den
höchſten idealen Funktionen der Seelenthätigkeit gewähren. Denn

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[412/0428] Familien-Verachtung des Chriſtenthums. XIX. beſitzt, d. h. gegen jenes naturgemäße Zuſammenleben mit den nächſten Blutsverwandten, welches für den normalen Menſchen ebenſo unentbehrlich iſt wie für alle höheren ſocialen Thiere. Die „Familie“ gilt uns ja mit Recht als die „Grundlage der Geſellſchaft“ und das geſunde Familien-Leben als Vorbedingung für ein blühendes Staatsleben. Ganz anderer Anſicht war Chriſtus, deſſen nach dem „Jenſeits“ gerichteter Blick die Frau und die Familie ebenſo gering ſchätzte wie alle anderen Güter des „Diesſeits“. Von den ſeltenen Berührungen mit ſeinen Eltern und Geſchwiſtern wiſſen die Evangelien nur ſehr wenig zu erzählen; das Verhältniß zu ſeiner Mutter Maria war danach keineswegs ſo zart und innig, wie es uns Tauſende von ſchönen Bildern in poetiſcher Verklärung vorführen; er ſelbſt war nicht verheirathet. Die Geſchlechts-Liebe, die doch die erſte Grundlage der Familien-Bildung iſt, erſchien Jeſus eher wie ein nothwendiges Uebel. Noch weiter ging darin ſein eifrigſter Apoſtel, Paulus, der es für beſſer erklärte, nicht zu heirathen als zu heirathen. „Es iſt dem Menſchen gut, daß er kein Weib berühre“ (I. Korinther 7, 1, 28-38). Wenn die Menſchheit dieſen guten Rath befolgte, würde ſie damit allerdings bald alles irdiſche Leid und Elend loswerden; ſie würde durch dieſe Radikal-Kur innerhalb eines Jahrhunderts ausſterben ¹⁵ . VI. Die Frauen-Verachtung des Chriſtenthums. Da Chriſtus ſelbſt die Frauenliebe nicht kannte, blieb ihm per- ſönlich jene feine Veredelung des wahren Menſchenweſens fremd, welche erſt aus dem innigen Zuſammenleben des Mannes mit dem Weibe entſpringt. Der intime ſexuelle Verkehr, auf welchem allein die Erhaltung des Menſchengeſchlechts beruht, iſt dafür ebenſo wichtig wie die geiſtige Durchdringung beider Geſchlechter und die gegenſeitige Ergänzung, die ſich Beide gleicher Weiſe in den praktiſchen Bedürfniſſen des täglichen Lebens wie in den höchſten idealen Funktionen der Seelenthätigkeit gewähren. Denn

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 412. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/428>, abgerufen am 07.05.2024.