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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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XIX. Das christliche Sittengesetz.
dhistischen Lehren) übernommen habe, wie es jetzt für die meisten
anderen christlichen Glaubenslehren nachgewiesen ist. Saladin
faßt die bezüglichen Ergebnisse der modernen kritischen Theologie
in dem Satze zusammen: "Es giebt keinen vernünftigen und
praktischen, von Jesus gelehrten Moralgrundsatz, der nicht
vor ihm auch schon von Anderen gelehrt worden wäre"
(Thales, Solon, Sokrates, Plato, Konfutse u. s. w.).

Christliche Sittenlehre. Da das ethische Grundgesetz
demnach bereits seit 2500 Jahren besteht, und da das Christen-
thum dasselbe ausdrücklich als höchstes, alle anderen umfassendes
Gebot an die Spitze seiner Sittenlehre stellt, würde unsere
monistische Ethik in diesem wichtigsten Punkte nicht nur
mit jenen älteren heidnischen Sittenlehren, sondern auch mit
den christlichen in vollkommenem Einklang sein. Leider wird
aber diese erfreuliche Harmonie dadurch gestört, daß die Evan-
gelien und die paulinischen Episteln viele andere Sittenlehren
enthalten, die jenem ersten und obersten Gebote geradezu wider-
sprechen. Die christlichen Theologen haben sich vergebens bemüht,
diese auffälligen und schmerzlich empfundenen Widersprüche durch
künstliche Deutungen auszugleichen*). Wir brauchen daher hier
nicht darauf einzugehen, müssen aber wohl kurz auf jene bedauer-
lichen Seiten der christlichen Lehre hinweisen, welche mit der
besseren Weltanschauung der Neuzeit unverträglich und bezüglich
ihrer praktischen Konsequenzen geradezu schädlich sind. Dahin
gehört die Verachtung der christlichen Moral gegen das eigene
Individuum, gegen den Leib, die Natur, die Kultur, die Familie
und die Frau.

I. Die Selbst-Verachtung des Christenthums.
Als obersten und wichtigsten Mißgriff der christlichen Ethik, welcher

*) Vergl. David Strauß, Gesammelte Schriften. Auswahl in
6 Bänden. Bonn 1878. -- Saladin, Jehovah's Gesammelte Werke. 1887.

XIX. Das chriſtliche Sittengeſetz.
dhiſtiſchen Lehren) übernommen habe, wie es jetzt für die meiſten
anderen chriſtlichen Glaubenslehren nachgewieſen iſt. Saladin
faßt die bezüglichen Ergebniſſe der modernen kritiſchen Theologie
in dem Satze zuſammen: „Es giebt keinen vernünftigen und
praktiſchen, von Jeſus gelehrten Moralgrundſatz, der nicht
vor ihm auch ſchon von Anderen gelehrt worden wäre“
(Thales, Solon, Sokrates, Plato, Konfutſe u. ſ. w.).

Chriſtliche Sittenlehre. Da das ethiſche Grundgeſetz
demnach bereits ſeit 2500 Jahren beſteht, und da das Chriſten-
thum dasſelbe ausdrücklich als höchſtes, alle anderen umfaſſendes
Gebot an die Spitze ſeiner Sittenlehre ſtellt, würde unſere
moniſtiſche Ethik in dieſem wichtigſten Punkte nicht nur
mit jenen älteren heidniſchen Sittenlehren, ſondern auch mit
den chriſtlichen in vollkommenem Einklang ſein. Leider wird
aber dieſe erfreuliche Harmonie dadurch geſtört, daß die Evan-
gelien und die pauliniſchen Epiſteln viele andere Sittenlehren
enthalten, die jenem erſten und oberſten Gebote geradezu wider-
ſprechen. Die chriſtlichen Theologen haben ſich vergebens bemüht,
dieſe auffälligen und ſchmerzlich empfundenen Widerſprüche durch
künſtliche Deutungen auszugleichen*). Wir brauchen daher hier
nicht darauf einzugehen, müſſen aber wohl kurz auf jene bedauer-
lichen Seiten der chriſtlichen Lehre hinweiſen, welche mit der
beſſeren Weltanſchauung der Neuzeit unverträglich und bezüglich
ihrer praktiſchen Konſequenzen geradezu ſchädlich ſind. Dahin
gehört die Verachtung der chriſtlichen Moral gegen das eigene
Individuum, gegen den Leib, die Natur, die Kultur, die Familie
und die Frau.

I. Die Selbſt-Verachtung des Chriſtenthums.
Als oberſten und wichtigſten Mißgriff der chriſtlichen Ethik, welcher

*) Vergl. David Strauß, Geſammelte Schriften. Auswahl in
6 Bänden. Bonn 1878. — Saladin, Jehovah's Geſammelte Werke. 1887.
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[407/0423] XIX. Das chriſtliche Sittengeſetz. dhiſtiſchen Lehren) übernommen habe, wie es jetzt für die meiſten anderen chriſtlichen Glaubenslehren nachgewieſen iſt. Saladin faßt die bezüglichen Ergebniſſe der modernen kritiſchen Theologie in dem Satze zuſammen: „Es giebt keinen vernünftigen und praktiſchen, von Jeſus gelehrten Moralgrundſatz, der nicht vor ihm auch ſchon von Anderen gelehrt worden wäre“ (Thales, Solon, Sokrates, Plato, Konfutſe u. ſ. w.). Chriſtliche Sittenlehre. Da das ethiſche Grundgeſetz demnach bereits ſeit 2500 Jahren beſteht, und da das Chriſten- thum dasſelbe ausdrücklich als höchſtes, alle anderen umfaſſendes Gebot an die Spitze ſeiner Sittenlehre ſtellt, würde unſere moniſtiſche Ethik in dieſem wichtigſten Punkte nicht nur mit jenen älteren heidniſchen Sittenlehren, ſondern auch mit den chriſtlichen in vollkommenem Einklang ſein. Leider wird aber dieſe erfreuliche Harmonie dadurch geſtört, daß die Evan- gelien und die pauliniſchen Epiſteln viele andere Sittenlehren enthalten, die jenem erſten und oberſten Gebote geradezu wider- ſprechen. Die chriſtlichen Theologen haben ſich vergebens bemüht, dieſe auffälligen und ſchmerzlich empfundenen Widerſprüche durch künſtliche Deutungen auszugleichen *). Wir brauchen daher hier nicht darauf einzugehen, müſſen aber wohl kurz auf jene bedauer- lichen Seiten der chriſtlichen Lehre hinweiſen, welche mit der beſſeren Weltanſchauung der Neuzeit unverträglich und bezüglich ihrer praktiſchen Konſequenzen geradezu ſchädlich ſind. Dahin gehört die Verachtung der chriſtlichen Moral gegen das eigene Individuum, gegen den Leib, die Natur, die Kultur, die Familie und die Frau. I. Die Selbſt-Verachtung des Chriſtenthums. Als oberſten und wichtigſten Mißgriff der chriſtlichen Ethik, welcher *) Vergl. David Strauß, Geſammelte Schriften. Auswahl in 6 Bänden. Bonn 1878. — Saladin, Jehovah's Geſammelte Werke. 1887.

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 407. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/423>, abgerufen am 23.11.2024.