höheren Thieren finden. Sie erkennt als höchstes Ziel der Moral die Herstellung einer gesunden Harmonie zwischen Egoismus und Altruismus, zwischen Selbstliebe und Nächstenliebe. Vor allen Anderen war es der große englische Philosoph Herbert Spencer, dem wir die Begründung dieser monistischen Ethik durch die Entwickelungslehre verdanken.
Egoismus und Altruismus. Der Mensch gehört zu den socialen Wirbelthieren und hat daher, wie alle socialen Thiere, zweierlei verschiedene Pflichten, erstens gegen sich selbst und zweitens gegen die Gesellschaft, der er angehört. Erstere sind Gebote der Selbstliebe (Egoismus), letztere Gebote der Nächstenliebe (Altruismus). Beide natürliche Gebote sind gleich berechtigt, gleich natürlich und gleich unentbehrlich. Will der Mensch in geordneter Gesellschaft existiren und sich wohl befinden, so muß er nicht nur sein eigenes Glück anstreben, sondern auch dasjenige der Gemeinschaft, der er angehört, und der "Nächsten", welche diesen socialen Verein bilden. Er muß erkennen, daß ihr Gedeihen sein Gedeihen ist und ihr Leiden sein Leiden. Dieses sociale Grundgesetz ist so einfach und so naturnothwendig, daß man schwer begreift, wie demselben theo- retisch und praktisch widersprochen werden kann; und doch geschieht das noch heute, wie es seit Jahrtausenden geschehen ist19.
Aequivalenz des Egoismus und Altruismus. Die gleiche Berechtigung dieser beiden Naturtriebe, die moralische Gleich- werthigkeit der Selbstliebe und der Nächstenliebe ist das wichtigste Fundamental-Princip unserer Moral. Das höchste Ziel aller vernünftigen Sittenlehre ist demnach sehr einfach, die Herstellung des "naturgemäßen Gleichgewichts zwischen Egoismus und Altruismus, zwischen Eigenliebe und Nächstenliebe". Das Goldene Sittengesetz sagt: "Was du willst, daß dir die Leute thun sollen, das thue du ihnen auch." Aus diesem höchsten Gebot des Christenthums folgt von selbst, daß wir
Egoismus und Altruismus. XIX.
höheren Thieren finden. Sie erkennt als höchſtes Ziel der Moral die Herſtellung einer geſunden Harmonie zwiſchen Egoismus und Altruismus, zwiſchen Selbſtliebe und Nächſtenliebe. Vor allen Anderen war es der große engliſche Philoſoph Herbert Spencer, dem wir die Begründung dieſer moniſtiſchen Ethik durch die Entwickelungslehre verdanken.
Egoismus und Altruismus. Der Menſch gehört zu den ſocialen Wirbelthieren und hat daher, wie alle ſocialen Thiere, zweierlei verſchiedene Pflichten, erſtens gegen ſich ſelbſt und zweitens gegen die Geſellſchaft, der er angehört. Erſtere ſind Gebote der Selbſtliebe (Egoismus), letztere Gebote der Nächſtenliebe (Altruismus). Beide natürliche Gebote ſind gleich berechtigt, gleich natürlich und gleich unentbehrlich. Will der Menſch in geordneter Geſellſchaft exiſtiren und ſich wohl befinden, ſo muß er nicht nur ſein eigenes Glück anſtreben, ſondern auch dasjenige der Gemeinſchaft, der er angehört, und der „Nächſten“, welche dieſen ſocialen Verein bilden. Er muß erkennen, daß ihr Gedeihen ſein Gedeihen iſt und ihr Leiden ſein Leiden. Dieſes ſociale Grundgeſetz iſt ſo einfach und ſo naturnothwendig, daß man ſchwer begreift, wie demſelben theo- retiſch und praktiſch widerſprochen werden kann; und doch geſchieht das noch heute, wie es ſeit Jahrtauſenden geſchehen iſt19.
Aequivalenz des Egoismus und Altruismus. Die gleiche Berechtigung dieſer beiden Naturtriebe, die moraliſche Gleich- werthigkeit der Selbſtliebe und der Nächſtenliebe iſt das wichtigſte Fundamental-Princip unſerer Moral. Das höchſte Ziel aller vernünftigen Sittenlehre iſt demnach ſehr einfach, die Herſtellung des „naturgemäßen Gleichgewichts zwiſchen Egoismus und Altruismus, zwiſchen Eigenliebe und Nächſtenliebe“. Das Goldene Sittengeſetz ſagt: „Was du willſt, daß dir die Leute thun ſollen, das thue du ihnen auch.“ Aus dieſem höchſten Gebot des Chriſtenthums folgt von ſelbſt, daß wir
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Egoismus und Altruismus. XIX.
höheren Thieren finden. Sie erkennt als höchſtes Ziel der Moral
die Herſtellung einer geſunden Harmonie zwiſchen Egoismus
und Altruismus, zwiſchen Selbſtliebe und Nächſtenliebe. Vor
allen Anderen war es der große engliſche Philoſoph Herbert
Spencer, dem wir die Begründung dieſer moniſtiſchen Ethik
durch die Entwickelungslehre verdanken.
Egoismus und Altruismus. Der Menſch gehört zu den
ſocialen Wirbelthieren und hat daher, wie alle ſocialen
Thiere, zweierlei verſchiedene Pflichten, erſtens gegen ſich ſelbſt
und zweitens gegen die Geſellſchaft, der er angehört. Erſtere
ſind Gebote der Selbſtliebe (Egoismus), letztere Gebote der
Nächſtenliebe (Altruismus). Beide natürliche Gebote ſind
gleich berechtigt, gleich natürlich und gleich unentbehrlich. Will
der Menſch in geordneter Geſellſchaft exiſtiren und ſich wohl
befinden, ſo muß er nicht nur ſein eigenes Glück anſtreben,
ſondern auch dasjenige der Gemeinſchaft, der er angehört, und
der „Nächſten“, welche dieſen ſocialen Verein bilden. Er muß
erkennen, daß ihr Gedeihen ſein Gedeihen iſt und ihr Leiden
ſein Leiden. Dieſes ſociale Grundgeſetz iſt ſo einfach und ſo
naturnothwendig, daß man ſchwer begreift, wie demſelben theo-
retiſch und praktiſch widerſprochen werden kann; und doch geſchieht
das noch heute, wie es ſeit Jahrtauſenden geſchehen iſt
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Aequivalenz des Egoismus und Altruismus. Die gleiche
Berechtigung dieſer beiden Naturtriebe, die moraliſche Gleich-
werthigkeit der Selbſtliebe und der Nächſtenliebe iſt das wichtigſte
Fundamental-Princip unſerer Moral. Das höchſte
Ziel aller vernünftigen Sittenlehre iſt demnach ſehr einfach, die
Herſtellung des „naturgemäßen Gleichgewichts zwiſchen
Egoismus und Altruismus, zwiſchen Eigenliebe und
Nächſtenliebe“. Das Goldene Sittengeſetz ſagt: „Was du willſt,
daß dir die Leute thun ſollen, das thue du ihnen auch.“ Aus
dieſem höchſten Gebot des Chriſtenthums folgt von ſelbſt, daß wir
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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 404. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/420>, abgerufen am 23.11.2024.
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