Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Religion der Vernunft. XVIII.
"freie Wissenschaft und freie Lehre" überhaupt auf; dann werden
sich unsere Universitäten in Konvikte, unsere Gymnasien in
Klosterschulen verwandeln. Oder es siegt der moderne Vernunft-
Staat, und dann wird sich im 20. Jahrhundert die menschliche
Bildung, Freiheit und Wohlstand in noch weit höherem Maaße
fortschreitend entwickeln, als es im 19. erfreulicher Weise der Fall
gewesen ist. (Vergl. oben S. 355, 356, Eduard Hartmann).

Gerade zur Förderung dieser hohen Ziele erscheint es höchst
wichtig, daß die moderne Naturwissenschaft nicht bloß die Wahn-
gebäude des Aberglaubens zertrümmert und deren wüsten Schutt
aus dem Wege räumt, sondern daß sie auch auf dem frei ge-
wordenen Bauplatze ein neues wohnliches Gebäude für das
menschliche Gemüth herrichtet; einen Palast der Vernunft,
in welchem wir mittels unserer neu gewonnenen monistischen
Weltanschauung die wahre "Dreieinigkeit" des 19. Jahr-
hunderts andächtig verehren, die Trinität des Wahren,
Guten und Schönen
. Um den Kultus dieser göttlichen
Ideale greifbar zu gestalten, erscheint es vor Allem nothwendig,
uns mit den herrschenden Religionsformen des Christenthums
aus einander zu setzen und die Veränderungen in's Auge zu
fassen, welche bei der Ersetzung der letzteren durch die erstere zu
erstreben sind. Denn die christliche Religion besitzt (in ihrer
ursprünglichen, reinen Form!) trotz aller Irrthümer und
Mängel einen so hohen sittlichen Werth, sie ist vor Allem seit
anderthalb Jahrtausenden so eng mit den wichtigsten socialen und
politischen Einrichtungen unseres Kulturlebens verwachsen, daß
wir uns bei Begründung unserer monistischen Religion möglichst an
die bestehenden Institutionen anlehnen müssen. Wir wollen keine
gewaltsame Revolution, sondern eine vernünftige Refor-
mation
unseres religiösen Geisteslebens. In ähnlicher Weise
nun, wie vor 2000 Jahren die klassische Poesie der alten
Hellenen ihre Tugend-Ideale in Götter-Gestalten verkörperte,

Religion der Vernunft. XVIII.
„freie Wiſſenſchaft und freie Lehre“ überhaupt auf; dann werden
ſich unſere Univerſitäten in Konvikte, unſere Gymnaſien in
Kloſterſchulen verwandeln. Oder es ſiegt der moderne Vernunft-
Staat, und dann wird ſich im 20. Jahrhundert die menſchliche
Bildung, Freiheit und Wohlſtand in noch weit höherem Maaße
fortſchreitend entwickeln, als es im 19. erfreulicher Weiſe der Fall
geweſen iſt. (Vergl. oben S. 355, 356, Eduard Hartmann).

Gerade zur Förderung dieſer hohen Ziele erſcheint es höchſt
wichtig, daß die moderne Naturwiſſenſchaft nicht bloß die Wahn-
gebäude des Aberglaubens zertrümmert und deren wüſten Schutt
aus dem Wege räumt, ſondern daß ſie auch auf dem frei ge-
wordenen Bauplatze ein neues wohnliches Gebäude für das
menſchliche Gemüth herrichtet; einen Palaſt der Vernunft,
in welchem wir mittels unſerer neu gewonnenen moniſtiſchen
Weltanſchauung die wahre „Dreieinigkeit“ des 19. Jahr-
hunderts andächtig verehren, die Trinität des Wahren,
Guten und Schönen
. Um den Kultus dieſer göttlichen
Ideale greifbar zu geſtalten, erſcheint es vor Allem nothwendig,
uns mit den herrſchenden Religionsformen des Chriſtenthums
aus einander zu ſetzen und die Veränderungen in's Auge zu
faſſen, welche bei der Erſetzung der letzteren durch die erſtere zu
erſtreben ſind. Denn die chriſtliche Religion beſitzt (in ihrer
urſprünglichen, reinen Form!) trotz aller Irrthümer und
Mängel einen ſo hohen ſittlichen Werth, ſie iſt vor Allem ſeit
anderthalb Jahrtauſenden ſo eng mit den wichtigſten ſocialen und
politiſchen Einrichtungen unſeres Kulturlebens verwachſen, daß
wir uns bei Begründung unſerer moniſtiſchen Religion möglichſt an
die beſtehenden Inſtitutionen anlehnen müſſen. Wir wollen keine
gewaltſame Revolution, ſondern eine vernünftige Refor-
mation
unſeres religiöſen Geiſteslebens. In ähnlicher Weiſe
nun, wie vor 2000 Jahren die klaſſiſche Poeſie der alten
Hellenen ihre Tugend-Ideale in Götter-Geſtalten verkörperte,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0404" n="388"/><fw place="top" type="header">Religion der Vernunft. <hi rendition="#aq">XVIII.</hi></fw><lb/>
&#x201E;freie Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft und freie Lehre&#x201C; überhaupt auf; dann werden<lb/>
&#x017F;ich un&#x017F;ere Univer&#x017F;itäten in Konvikte, un&#x017F;ere Gymna&#x017F;ien in<lb/>
Klo&#x017F;ter&#x017F;chulen verwandeln. Oder es &#x017F;iegt der moderne Vernunft-<lb/>
Staat, und dann wird &#x017F;ich im 20. Jahrhundert die men&#x017F;chliche<lb/>
Bildung, Freiheit und Wohl&#x017F;tand in noch weit höherem Maaße<lb/>
fort&#x017F;chreitend entwickeln, als es im 19. erfreulicher Wei&#x017F;e der Fall<lb/>
gewe&#x017F;en i&#x017F;t. (Vergl. oben S. 355, 356, <hi rendition="#g">Eduard Hartmann</hi>).</p><lb/>
          <p>Gerade zur Förderung die&#x017F;er hohen Ziele er&#x017F;cheint es höch&#x017F;t<lb/>
wichtig, daß die moderne Naturwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft nicht bloß die Wahn-<lb/>
gebäude des Aberglaubens zertrümmert und deren wü&#x017F;ten Schutt<lb/>
aus dem Wege räumt, &#x017F;ondern daß &#x017F;ie auch auf dem frei ge-<lb/>
wordenen Bauplatze ein neues wohnliches Gebäude für das<lb/>
men&#x017F;chliche Gemüth herrichtet; einen <hi rendition="#g">Pala&#x017F;t der Vernunft,</hi><lb/>
in welchem wir mittels un&#x017F;erer neu gewonnenen moni&#x017F;ti&#x017F;chen<lb/>
Weltan&#x017F;chauung die wahre &#x201E;Dreieinigkeit&#x201C; des 19. Jahr-<lb/>
hunderts andächtig verehren, die <hi rendition="#g">Trinität des Wahren,<lb/>
Guten und Schönen</hi>. Um den Kultus die&#x017F;er göttlichen<lb/>
Ideale greifbar zu ge&#x017F;talten, er&#x017F;cheint es vor Allem nothwendig,<lb/>
uns mit den herr&#x017F;chenden Religionsformen des Chri&#x017F;tenthums<lb/>
aus einander zu &#x017F;etzen und die Veränderungen in's Auge zu<lb/>
fa&#x017F;&#x017F;en, welche bei der Er&#x017F;etzung der letzteren durch die er&#x017F;tere zu<lb/>
er&#x017F;treben &#x017F;ind. Denn die chri&#x017F;tliche Religion be&#x017F;itzt (in ihrer<lb/><hi rendition="#g">ur&#x017F;prünglichen,</hi> reinen Form!) trotz aller Irrthümer und<lb/>
Mängel einen &#x017F;o hohen &#x017F;ittlichen Werth, &#x017F;ie i&#x017F;t vor Allem &#x017F;eit<lb/>
anderthalb Jahrtau&#x017F;enden &#x017F;o eng mit den wichtig&#x017F;ten &#x017F;ocialen und<lb/>
politi&#x017F;chen Einrichtungen un&#x017F;eres Kulturlebens verwach&#x017F;en, daß<lb/>
wir uns bei Begründung un&#x017F;erer moni&#x017F;ti&#x017F;chen Religion möglich&#x017F;t an<lb/>
die be&#x017F;tehenden In&#x017F;titutionen anlehnen mü&#x017F;&#x017F;en. Wir wollen keine<lb/>
gewalt&#x017F;ame <hi rendition="#g">Revolution,</hi> &#x017F;ondern eine vernünftige <hi rendition="#g">Refor-<lb/>
mation</hi> un&#x017F;eres religiö&#x017F;en Gei&#x017F;teslebens. In ähnlicher Wei&#x017F;e<lb/>
nun, wie vor 2000 Jahren die kla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;che Poe&#x017F;ie der alten<lb/>
Hellenen ihre Tugend-Ideale in Götter-Ge&#x017F;talten verkörperte,<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[388/0404] Religion der Vernunft. XVIII. „freie Wiſſenſchaft und freie Lehre“ überhaupt auf; dann werden ſich unſere Univerſitäten in Konvikte, unſere Gymnaſien in Kloſterſchulen verwandeln. Oder es ſiegt der moderne Vernunft- Staat, und dann wird ſich im 20. Jahrhundert die menſchliche Bildung, Freiheit und Wohlſtand in noch weit höherem Maaße fortſchreitend entwickeln, als es im 19. erfreulicher Weiſe der Fall geweſen iſt. (Vergl. oben S. 355, 356, Eduard Hartmann). Gerade zur Förderung dieſer hohen Ziele erſcheint es höchſt wichtig, daß die moderne Naturwiſſenſchaft nicht bloß die Wahn- gebäude des Aberglaubens zertrümmert und deren wüſten Schutt aus dem Wege räumt, ſondern daß ſie auch auf dem frei ge- wordenen Bauplatze ein neues wohnliches Gebäude für das menſchliche Gemüth herrichtet; einen Palaſt der Vernunft, in welchem wir mittels unſerer neu gewonnenen moniſtiſchen Weltanſchauung die wahre „Dreieinigkeit“ des 19. Jahr- hunderts andächtig verehren, die Trinität des Wahren, Guten und Schönen. Um den Kultus dieſer göttlichen Ideale greifbar zu geſtalten, erſcheint es vor Allem nothwendig, uns mit den herrſchenden Religionsformen des Chriſtenthums aus einander zu ſetzen und die Veränderungen in's Auge zu faſſen, welche bei der Erſetzung der letzteren durch die erſtere zu erſtreben ſind. Denn die chriſtliche Religion beſitzt (in ihrer urſprünglichen, reinen Form!) trotz aller Irrthümer und Mängel einen ſo hohen ſittlichen Werth, ſie iſt vor Allem ſeit anderthalb Jahrtauſenden ſo eng mit den wichtigſten ſocialen und politiſchen Einrichtungen unſeres Kulturlebens verwachſen, daß wir uns bei Begründung unſerer moniſtiſchen Religion möglichſt an die beſtehenden Inſtitutionen anlehnen müſſen. Wir wollen keine gewaltſame Revolution, ſondern eine vernünftige Refor- mation unſeres religiöſen Geiſteslebens. In ähnlicher Weiſe nun, wie vor 2000 Jahren die klaſſiſche Poeſie der alten Hellenen ihre Tugend-Ideale in Götter-Geſtalten verkörperte,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/404
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 388. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/404>, abgerufen am 07.05.2024.