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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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XVIII. Der deutsche Kulturkampf.
seiner aalglatten Jesuiten-Politik, andererseits durch die falsche
Kirchenpolitik der deutschen Reichsregierung und die merkwürdige
politische Unfähigkeit des deutschen Volkes. So müssen wir
denn jetzt am Schlusse des 19. Jahrhunderts das beschämende
Schauspiel erleben, daß das sogenannte "Centrum im Deutschen
Reichstage Trumpf" ist, und daß die Geschicke unseres ge-
demüthigten Vaterlandes von einer papistischen Partei geleitet
werden, deren Kopfzahl noch nicht den dritten Theil der ganzen
Bevölkerung beträgt.

Als der deutsche Kulturkampf 1872 begann, wurde er mit
vollem Rechte
von allen frei denkenden Männern als eine
politische Erneuerung der Reformation begrüßt, als ein energischer
Versuch, die moderne Kultur von dem Joche der papistischen
Geistes-Tyrannei zu befreien; die gesammte liberale Presse feierte
Fürst Bismarck als "politischen Luther", als den gewaltigen
Helden, der nicht nur die nationale Einigung, sondern auch die
geistige Befreiung Deutschlands erringe. Zehn Jahre später,
nachdem der Papismus gesiegt hatte, behauptete dieselbe "liberale
Presse" das Gegentheil und erklärte den Kulturkampf für einen
großen Fehler; und dasselbe thut sie noch heute. Diese That-
sache beweist nur, wie kurz das Gedächtniß unserer Zeitungs-
schreiber, wie mangelhaft ihre Kenntniß der Geschichte und wie
unvollkommen ihre philosophische Bildung ist. Der sogenannte
"Friedensschluß zwischen Staat und Kirche" ist immer nur ein
Waffenstillstand. Der moderne Papismus, getreu den ab-
solutistischen, seit 1600 Jahren befolgten Principien, will und muß
die Alleinherrschaft über die leichtgläubigen Seelen be-
haupten; er muß die absolute Unterwerfung des Kulturstaates
fordern, der als solcher die Rechte der Vernunft und Wissen-
schaft vertritt. Wirklicher Friede kann erst eintreten, wenn einer
der beiden ringenden Kämpfer bewältigt am Boden liegt. Ent-
weder siegt die "alleinseligmachende Kirche", und dann hört

25*

XVIII. Der deutſche Kulturkampf.
ſeiner aalglatten Jeſuiten-Politik, andererſeits durch die falſche
Kirchenpolitik der deutſchen Reichsregierung und die merkwürdige
politiſche Unfähigkeit des deutſchen Volkes. So müſſen wir
denn jetzt am Schluſſe des 19. Jahrhunderts das beſchämende
Schauſpiel erleben, daß das ſogenannte „Centrum im Deutſchen
Reichstage Trumpf“ iſt, und daß die Geſchicke unſeres ge-
demüthigten Vaterlandes von einer papiſtiſchen Partei geleitet
werden, deren Kopfzahl noch nicht den dritten Theil der ganzen
Bevölkerung beträgt.

Als der deutſche Kulturkampf 1872 begann, wurde er mit
vollem Rechte
von allen frei denkenden Männern als eine
politiſche Erneuerung der Reformation begrüßt, als ein energiſcher
Verſuch, die moderne Kultur von dem Joche der papiſtiſchen
Geiſtes-Tyrannei zu befreien; die geſammte liberale Preſſe feierte
Fürſt Bismarck als „politiſchen Luther“, als den gewaltigen
Helden, der nicht nur die nationale Einigung, ſondern auch die
geiſtige Befreiung Deutſchlands erringe. Zehn Jahre ſpäter,
nachdem der Papismus geſiegt hatte, behauptete dieſelbe „liberale
Preſſe“ das Gegentheil und erklärte den Kulturkampf für einen
großen Fehler; und dasſelbe thut ſie noch heute. Dieſe That-
ſache beweiſt nur, wie kurz das Gedächtniß unſerer Zeitungs-
ſchreiber, wie mangelhaft ihre Kenntniß der Geſchichte und wie
unvollkommen ihre philoſophiſche Bildung iſt. Der ſogenannte
„Friedensſchluß zwiſchen Staat und Kirche“ iſt immer nur ein
Waffenſtillſtand. Der moderne Papismus, getreu den ab-
ſolutiſtiſchen, ſeit 1600 Jahren befolgten Principien, will und muß
die Alleinherrſchaft über die leichtgläubigen Seelen be-
haupten; er muß die abſolute Unterwerfung des Kulturſtaates
fordern, der als ſolcher die Rechte der Vernunft und Wiſſen-
ſchaft vertritt. Wirklicher Friede kann erſt eintreten, wenn einer
der beiden ringenden Kämpfer bewältigt am Boden liegt. Ent-
weder ſiegt die „alleinſeligmachende Kirche“, und dann hört

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[387/0403] XVIII. Der deutſche Kulturkampf. ſeiner aalglatten Jeſuiten-Politik, andererſeits durch die falſche Kirchenpolitik der deutſchen Reichsregierung und die merkwürdige politiſche Unfähigkeit des deutſchen Volkes. So müſſen wir denn jetzt am Schluſſe des 19. Jahrhunderts das beſchämende Schauſpiel erleben, daß das ſogenannte „Centrum im Deutſchen Reichstage Trumpf“ iſt, und daß die Geſchicke unſeres ge- demüthigten Vaterlandes von einer papiſtiſchen Partei geleitet werden, deren Kopfzahl noch nicht den dritten Theil der ganzen Bevölkerung beträgt. Als der deutſche Kulturkampf 1872 begann, wurde er mit vollem Rechte von allen frei denkenden Männern als eine politiſche Erneuerung der Reformation begrüßt, als ein energiſcher Verſuch, die moderne Kultur von dem Joche der papiſtiſchen Geiſtes-Tyrannei zu befreien; die geſammte liberale Preſſe feierte Fürſt Bismarck als „politiſchen Luther“, als den gewaltigen Helden, der nicht nur die nationale Einigung, ſondern auch die geiſtige Befreiung Deutſchlands erringe. Zehn Jahre ſpäter, nachdem der Papismus geſiegt hatte, behauptete dieſelbe „liberale Preſſe“ das Gegentheil und erklärte den Kulturkampf für einen großen Fehler; und dasſelbe thut ſie noch heute. Dieſe That- ſache beweiſt nur, wie kurz das Gedächtniß unſerer Zeitungs- ſchreiber, wie mangelhaft ihre Kenntniß der Geſchichte und wie unvollkommen ihre philoſophiſche Bildung iſt. Der ſogenannte „Friedensſchluß zwiſchen Staat und Kirche“ iſt immer nur ein Waffenſtillſtand. Der moderne Papismus, getreu den ab- ſolutiſtiſchen, ſeit 1600 Jahren befolgten Principien, will und muß die Alleinherrſchaft über die leichtgläubigen Seelen be- haupten; er muß die abſolute Unterwerfung des Kulturſtaates fordern, der als ſolcher die Rechte der Vernunft und Wiſſen- ſchaft vertritt. Wirklicher Friede kann erſt eintreten, wenn einer der beiden ringenden Kämpfer bewältigt am Boden liegt. Ent- weder ſiegt die „alleinſeligmachende Kirche“, und dann hört 25*

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 387. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/403>, abgerufen am 23.11.2024.