seiner aalglatten Jesuiten-Politik, andererseits durch die falsche Kirchenpolitik der deutschen Reichsregierung und die merkwürdige politische Unfähigkeit des deutschen Volkes. So müssen wir denn jetzt am Schlusse des 19. Jahrhunderts das beschämende Schauspiel erleben, daß das sogenannte "Centrum im Deutschen Reichstage Trumpf" ist, und daß die Geschicke unseres ge- demüthigten Vaterlandes von einer papistischen Partei geleitet werden, deren Kopfzahl noch nicht den dritten Theil der ganzen Bevölkerung beträgt.
Als der deutsche Kulturkampf 1872 begann, wurde er mit vollem Rechte von allen frei denkenden Männern als eine politische Erneuerung der Reformation begrüßt, als ein energischer Versuch, die moderne Kultur von dem Joche der papistischen Geistes-Tyrannei zu befreien; die gesammte liberale Presse feierte Fürst Bismarck als "politischen Luther", als den gewaltigen Helden, der nicht nur die nationale Einigung, sondern auch die geistige Befreiung Deutschlands erringe. Zehn Jahre später, nachdem der Papismus gesiegt hatte, behauptete dieselbe "liberale Presse" das Gegentheil und erklärte den Kulturkampf für einen großen Fehler; und dasselbe thut sie noch heute. Diese That- sache beweist nur, wie kurz das Gedächtniß unserer Zeitungs- schreiber, wie mangelhaft ihre Kenntniß der Geschichte und wie unvollkommen ihre philosophische Bildung ist. Der sogenannte "Friedensschluß zwischen Staat und Kirche" ist immer nur ein Waffenstillstand. Der moderne Papismus, getreu den ab- solutistischen, seit 1600 Jahren befolgten Principien, will und muß die Alleinherrschaft über die leichtgläubigen Seelen be- haupten; er muß die absolute Unterwerfung des Kulturstaates fordern, der als solcher die Rechte der Vernunft und Wissen- schaft vertritt. Wirklicher Friede kann erst eintreten, wenn einer der beiden ringenden Kämpfer bewältigt am Boden liegt. Ent- weder siegt die "alleinseligmachende Kirche", und dann hört
25*
XVIII. Der deutſche Kulturkampf.
ſeiner aalglatten Jeſuiten-Politik, andererſeits durch die falſche Kirchenpolitik der deutſchen Reichsregierung und die merkwürdige politiſche Unfähigkeit des deutſchen Volkes. So müſſen wir denn jetzt am Schluſſe des 19. Jahrhunderts das beſchämende Schauſpiel erleben, daß das ſogenannte „Centrum im Deutſchen Reichstage Trumpf“ iſt, und daß die Geſchicke unſeres ge- demüthigten Vaterlandes von einer papiſtiſchen Partei geleitet werden, deren Kopfzahl noch nicht den dritten Theil der ganzen Bevölkerung beträgt.
Als der deutſche Kulturkampf 1872 begann, wurde er mit vollem Rechte von allen frei denkenden Männern als eine politiſche Erneuerung der Reformation begrüßt, als ein energiſcher Verſuch, die moderne Kultur von dem Joche der papiſtiſchen Geiſtes-Tyrannei zu befreien; die geſammte liberale Preſſe feierte Fürſt Bismarck als „politiſchen Luther“, als den gewaltigen Helden, der nicht nur die nationale Einigung, ſondern auch die geiſtige Befreiung Deutſchlands erringe. Zehn Jahre ſpäter, nachdem der Papismus geſiegt hatte, behauptete dieſelbe „liberale Preſſe“ das Gegentheil und erklärte den Kulturkampf für einen großen Fehler; und dasſelbe thut ſie noch heute. Dieſe That- ſache beweiſt nur, wie kurz das Gedächtniß unſerer Zeitungs- ſchreiber, wie mangelhaft ihre Kenntniß der Geſchichte und wie unvollkommen ihre philoſophiſche Bildung iſt. Der ſogenannte „Friedensſchluß zwiſchen Staat und Kirche“ iſt immer nur ein Waffenſtillſtand. Der moderne Papismus, getreu den ab- ſolutiſtiſchen, ſeit 1600 Jahren befolgten Principien, will und muß die Alleinherrſchaft über die leichtgläubigen Seelen be- haupten; er muß die abſolute Unterwerfung des Kulturſtaates fordern, der als ſolcher die Rechte der Vernunft und Wiſſen- ſchaft vertritt. Wirklicher Friede kann erſt eintreten, wenn einer der beiden ringenden Kämpfer bewältigt am Boden liegt. Ent- weder ſiegt die „alleinſeligmachende Kirche“, und dann hört
25*
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0403"n="387"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">XVIII.</hi> Der deutſche Kulturkampf.</fw><lb/>ſeiner aalglatten Jeſuiten-Politik, andererſeits durch die falſche<lb/>
Kirchenpolitik der deutſchen Reichsregierung und die merkwürdige<lb/>
politiſche Unfähigkeit des deutſchen Volkes. So müſſen wir<lb/>
denn jetzt am Schluſſe des 19. Jahrhunderts das beſchämende<lb/>
Schauſpiel erleben, daß das ſogenannte „Centrum im Deutſchen<lb/>
Reichstage Trumpf“ iſt, und daß die Geſchicke unſeres ge-<lb/>
demüthigten Vaterlandes von einer papiſtiſchen Partei geleitet<lb/>
werden, deren Kopfzahl noch nicht den dritten Theil der ganzen<lb/>
Bevölkerung beträgt.</p><lb/><p>Als der deutſche Kulturkampf 1872 begann, wurde er <hirendition="#g">mit<lb/>
vollem Rechte</hi> von allen frei denkenden Männern als eine<lb/>
politiſche Erneuerung der Reformation begrüßt, als ein energiſcher<lb/>
Verſuch, die moderne Kultur von dem Joche der papiſtiſchen<lb/>
Geiſtes-Tyrannei zu befreien; die geſammte liberale Preſſe feierte<lb/>
Fürſt Bismarck als „politiſchen Luther“, als den gewaltigen<lb/>
Helden, der nicht nur die nationale Einigung, ſondern auch die<lb/>
geiſtige Befreiung Deutſchlands erringe. Zehn Jahre ſpäter,<lb/>
nachdem der Papismus geſiegt hatte, behauptete dieſelbe „liberale<lb/>
Preſſe“ das Gegentheil und erklärte den Kulturkampf für einen<lb/>
großen Fehler; und dasſelbe thut ſie noch heute. Dieſe That-<lb/>ſache beweiſt nur, wie kurz das Gedächtniß unſerer Zeitungs-<lb/>ſchreiber, wie mangelhaft ihre Kenntniß der Geſchichte und wie<lb/>
unvollkommen ihre philoſophiſche Bildung iſt. Der ſogenannte<lb/>„Friedensſchluß zwiſchen Staat und Kirche“ iſt immer nur ein<lb/>
Waffenſtillſtand. Der moderne Papismus, getreu den ab-<lb/>ſolutiſtiſchen, ſeit 1600 Jahren befolgten Principien, will und muß<lb/>
die <hirendition="#g">Alleinherrſchaft</hi> über die leichtgläubigen Seelen be-<lb/>
haupten; er muß die abſolute Unterwerfung des Kulturſtaates<lb/>
fordern, der als ſolcher die Rechte der Vernunft und Wiſſen-<lb/>ſchaft vertritt. Wirklicher Friede kann erſt eintreten, wenn einer<lb/>
der beiden ringenden Kämpfer bewältigt am Boden liegt. Ent-<lb/>
weder ſiegt die „alleinſeligmachende Kirche“, und dann hört<lb/><fwplace="bottom"type="sig">25*</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[387/0403]
XVIII. Der deutſche Kulturkampf.
ſeiner aalglatten Jeſuiten-Politik, andererſeits durch die falſche
Kirchenpolitik der deutſchen Reichsregierung und die merkwürdige
politiſche Unfähigkeit des deutſchen Volkes. So müſſen wir
denn jetzt am Schluſſe des 19. Jahrhunderts das beſchämende
Schauſpiel erleben, daß das ſogenannte „Centrum im Deutſchen
Reichstage Trumpf“ iſt, und daß die Geſchicke unſeres ge-
demüthigten Vaterlandes von einer papiſtiſchen Partei geleitet
werden, deren Kopfzahl noch nicht den dritten Theil der ganzen
Bevölkerung beträgt.
Als der deutſche Kulturkampf 1872 begann, wurde er mit
vollem Rechte von allen frei denkenden Männern als eine
politiſche Erneuerung der Reformation begrüßt, als ein energiſcher
Verſuch, die moderne Kultur von dem Joche der papiſtiſchen
Geiſtes-Tyrannei zu befreien; die geſammte liberale Preſſe feierte
Fürſt Bismarck als „politiſchen Luther“, als den gewaltigen
Helden, der nicht nur die nationale Einigung, ſondern auch die
geiſtige Befreiung Deutſchlands erringe. Zehn Jahre ſpäter,
nachdem der Papismus geſiegt hatte, behauptete dieſelbe „liberale
Preſſe“ das Gegentheil und erklärte den Kulturkampf für einen
großen Fehler; und dasſelbe thut ſie noch heute. Dieſe That-
ſache beweiſt nur, wie kurz das Gedächtniß unſerer Zeitungs-
ſchreiber, wie mangelhaft ihre Kenntniß der Geſchichte und wie
unvollkommen ihre philoſophiſche Bildung iſt. Der ſogenannte
„Friedensſchluß zwiſchen Staat und Kirche“ iſt immer nur ein
Waffenſtillſtand. Der moderne Papismus, getreu den ab-
ſolutiſtiſchen, ſeit 1600 Jahren befolgten Principien, will und muß
die Alleinherrſchaft über die leichtgläubigen Seelen be-
haupten; er muß die abſolute Unterwerfung des Kulturſtaates
fordern, der als ſolcher die Rechte der Vernunft und Wiſſen-
ſchaft vertritt. Wirklicher Friede kann erſt eintreten, wenn einer
der beiden ringenden Kämpfer bewältigt am Boden liegt. Ent-
weder ſiegt die „alleinſeligmachende Kirche“, und dann hört
25*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 387. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/403>, abgerufen am 07.05.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.