Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

XVI. Werth der Sinnlichkeit.
thöricht als der, welcher seine Augen ausreißt, weil sie einmal
auch schändliche Dinge sehen könnten; oder der, welcher seine
Hand abhaut, weil er fürchtet, sie könnte einmal auch nach
fremdem Gute langen. Mit vollem Rechte nennt deßhalb
Feuerbach alle Philosophien, alle Religionen, alle Institute,
die dem Principe der Sinnlichkeit widersprechen, nicht nur
irrthümliche, sondern sogar grundverderbliche. Ohne Sinne
keine Erkenntniß! "Nihil est in intellectu, quod non fuerit
in sensu!"
(Locke). Welches hohe Verdienst sich neuerdings der
Darwinismus um die tiefere Erkenntniß und richtige Würdigung
der Sinnesthätigkeit erworben hat, habe ich schon vor zwanzig
Jahren in meinem Vortrage "Ueber Ursprung und Entwickelung
der Sinneswerkzeuge" zu zeigen versucht*).

Hypothese und Glaube. Der Erkenntnißtrieb des hoch-
entwickelten Kulturmenschen begnügt sich nicht mit jener lücken-
haften Kenntniß der Außenwelt, welche er durch seine unvoll-
kommenen Sinnesorgane gewinnt. Er bemüht sich vielmehr, die
sinnlichen Eindrücke, welche er durch dieselben gewonnen hat, in
Erkenntniß-Werthe umzusetzen; er verwandelt sie in den Sinnes-
herden der Großhirnrinde in specifische Sinnes-Empfindungen
und verbindet diese durch Associon in deren Denkherden zu
Vorstellungen; durch weitere Verkettung der Vorstellungs-Gruppen
gelangt er endlich zu zusammenhängendem Wissen. Aber dieses
Wissen bleibt immer lückenhaft und unbefriedigend, wenn nicht
die Phantasie die ungenügende Kombinations-Kraft des er-
kennenden Verstandes ergänzt und durch Associon von Gedächtniß-
bildern entfernt liegende Erkenntnisse zu einem zusammenhängenden
Ganzen verknüpft. Dabei entstehen neue allgemeine Vorstellungs-
Gebilde, welche erst die wahrgenommenen Thatsachen erklären und
das "Kausalitäts-Bedürfniß der Vernunft befriedigen".

*) E. Haeckel, Gesammelte populäre Vorträge. Bonn 1878.

XVI. Werth der Sinnlichkeit.
thöricht als der, welcher ſeine Augen ausreißt, weil ſie einmal
auch ſchändliche Dinge ſehen könnten; oder der, welcher ſeine
Hand abhaut, weil er fürchtet, ſie könnte einmal auch nach
fremdem Gute langen. Mit vollem Rechte nennt deßhalb
Feuerbach alle Philoſophien, alle Religionen, alle Inſtitute,
die dem Principe der Sinnlichkeit widerſprechen, nicht nur
irrthümliche, ſondern ſogar grundverderbliche. Ohne Sinne
keine Erkenntniß! „Nihil eſt in intellectu, quod non fuerit
in ſenſu!“
(Locke). Welches hohe Verdienſt ſich neuerdings der
Darwinismus um die tiefere Erkenntniß und richtige Würdigung
der Sinnesthätigkeit erworben hat, habe ich ſchon vor zwanzig
Jahren in meinem Vortrage „Ueber Urſprung und Entwickelung
der Sinneswerkzeuge“ zu zeigen verſucht*).

Hypotheſe und Glaube. Der Erkenntnißtrieb des hoch-
entwickelten Kulturmenſchen begnügt ſich nicht mit jener lücken-
haften Kenntniß der Außenwelt, welche er durch ſeine unvoll-
kommenen Sinnesorgane gewinnt. Er bemüht ſich vielmehr, die
ſinnlichen Eindrücke, welche er durch dieſelben gewonnen hat, in
Erkenntniß-Werthe umzuſetzen; er verwandelt ſie in den Sinnes-
herden der Großhirnrinde in ſpecifiſche Sinnes-Empfindungen
und verbindet dieſe durch Aſſocion in deren Denkherden zu
Vorſtellungen; durch weitere Verkettung der Vorſtellungs-Gruppen
gelangt er endlich zu zuſammenhängendem Wiſſen. Aber dieſes
Wiſſen bleibt immer lückenhaft und unbefriedigend, wenn nicht
die Phantaſie die ungenügende Kombinations-Kraft des er-
kennenden Verſtandes ergänzt und durch Aſſocion von Gedächtniß-
bildern entfernt liegende Erkenntniſſe zu einem zuſammenhängenden
Ganzen verknüpft. Dabei entſtehen neue allgemeine Vorſtellungs-
Gebilde, welche erſt die wahrgenommenen Thatſachen erklären und
das „Kauſalitäts-Bedürfniß der Vernunft befriedigen“.

*) E. Haeckel, Geſammelte populäre Vorträge. Bonn 1878.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0361" n="345"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">XVI.</hi> Werth der Sinnlichkeit.</fw><lb/>
thöricht als der, welcher &#x017F;eine Augen ausreißt, weil &#x017F;ie einmal<lb/>
auch &#x017F;chändliche Dinge &#x017F;ehen könnten; oder der, welcher &#x017F;eine<lb/>
Hand abhaut, weil er fürchtet, &#x017F;ie könnte einmal auch nach<lb/>
fremdem Gute langen. Mit vollem Rechte nennt deßhalb<lb/><hi rendition="#g">Feuerbach</hi> alle Philo&#x017F;ophien, alle Religionen, alle In&#x017F;titute,<lb/>
die dem Principe der <hi rendition="#g">Sinnlichkeit</hi> wider&#x017F;prechen, nicht nur<lb/>
irrthümliche, &#x017F;ondern &#x017F;ogar <hi rendition="#g">grundverderbliche</hi>. Ohne Sinne<lb/>
keine Erkenntniß! <hi rendition="#aq">&#x201E;Nihil e&#x017F;t in intellectu, quod non fuerit<lb/>
in &#x017F;en&#x017F;u!&#x201C;</hi> (<hi rendition="#g">Locke</hi>). Welches hohe Verdien&#x017F;t &#x017F;ich neuerdings der<lb/>
Darwinismus um die tiefere Erkenntniß und richtige Würdigung<lb/>
der Sinnesthätigkeit erworben hat, habe ich &#x017F;chon vor zwanzig<lb/>
Jahren in meinem Vortrage &#x201E;Ueber Ur&#x017F;prung und Entwickelung<lb/>
der Sinneswerkzeuge&#x201C; zu zeigen ver&#x017F;ucht<note place="foot" n="*)"><hi rendition="#g">E. Haeckel</hi>, Ge&#x017F;ammelte populäre Vorträge. Bonn 1878.</note>.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#b">Hypothe&#x017F;e und Glaube.</hi> Der Erkenntnißtrieb des hoch-<lb/>
entwickelten Kulturmen&#x017F;chen begnügt &#x017F;ich nicht mit jener lücken-<lb/>
haften Kenntniß der Außenwelt, welche er durch &#x017F;eine unvoll-<lb/>
kommenen Sinnesorgane gewinnt. Er bemüht &#x017F;ich vielmehr, die<lb/>
&#x017F;innlichen Eindrücke, welche er durch die&#x017F;elben gewonnen hat, in<lb/>
Erkenntniß-Werthe umzu&#x017F;etzen; er verwandelt &#x017F;ie in den Sinnes-<lb/>
herden der Großhirnrinde in &#x017F;pecifi&#x017F;che Sinnes-Empfindungen<lb/>
und verbindet die&#x017F;e durch <hi rendition="#g">A&#x017F;&#x017F;ocion</hi> in deren Denkherden zu<lb/>
Vor&#x017F;tellungen; durch weitere Verkettung der Vor&#x017F;tellungs-Gruppen<lb/>
gelangt er endlich zu zu&#x017F;ammenhängendem Wi&#x017F;&#x017F;en. Aber die&#x017F;es<lb/>
Wi&#x017F;&#x017F;en bleibt immer lückenhaft und unbefriedigend, wenn nicht<lb/>
die <hi rendition="#g">Phanta&#x017F;ie</hi> die ungenügende Kombinations-Kraft des er-<lb/>
kennenden Ver&#x017F;tandes ergänzt und durch A&#x017F;&#x017F;ocion von Gedächtniß-<lb/>
bildern entfernt liegende Erkenntni&#x017F;&#x017F;e zu einem zu&#x017F;ammenhängenden<lb/>
Ganzen verknüpft. Dabei ent&#x017F;tehen neue allgemeine Vor&#x017F;tellungs-<lb/>
Gebilde, welche er&#x017F;t die wahrgenommenen That&#x017F;achen erklären und<lb/>
das &#x201E;Kau&#x017F;alitäts-Bedürfniß der Vernunft befriedigen&#x201C;.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[345/0361] XVI. Werth der Sinnlichkeit. thöricht als der, welcher ſeine Augen ausreißt, weil ſie einmal auch ſchändliche Dinge ſehen könnten; oder der, welcher ſeine Hand abhaut, weil er fürchtet, ſie könnte einmal auch nach fremdem Gute langen. Mit vollem Rechte nennt deßhalb Feuerbach alle Philoſophien, alle Religionen, alle Inſtitute, die dem Principe der Sinnlichkeit widerſprechen, nicht nur irrthümliche, ſondern ſogar grundverderbliche. Ohne Sinne keine Erkenntniß! „Nihil eſt in intellectu, quod non fuerit in ſenſu!“ (Locke). Welches hohe Verdienſt ſich neuerdings der Darwinismus um die tiefere Erkenntniß und richtige Würdigung der Sinnesthätigkeit erworben hat, habe ich ſchon vor zwanzig Jahren in meinem Vortrage „Ueber Urſprung und Entwickelung der Sinneswerkzeuge“ zu zeigen verſucht *). Hypotheſe und Glaube. Der Erkenntnißtrieb des hoch- entwickelten Kulturmenſchen begnügt ſich nicht mit jener lücken- haften Kenntniß der Außenwelt, welche er durch ſeine unvoll- kommenen Sinnesorgane gewinnt. Er bemüht ſich vielmehr, die ſinnlichen Eindrücke, welche er durch dieſelben gewonnen hat, in Erkenntniß-Werthe umzuſetzen; er verwandelt ſie in den Sinnes- herden der Großhirnrinde in ſpecifiſche Sinnes-Empfindungen und verbindet dieſe durch Aſſocion in deren Denkherden zu Vorſtellungen; durch weitere Verkettung der Vorſtellungs-Gruppen gelangt er endlich zu zuſammenhängendem Wiſſen. Aber dieſes Wiſſen bleibt immer lückenhaft und unbefriedigend, wenn nicht die Phantaſie die ungenügende Kombinations-Kraft des er- kennenden Verſtandes ergänzt und durch Aſſocion von Gedächtniß- bildern entfernt liegende Erkenntniſſe zu einem zuſammenhängenden Ganzen verknüpft. Dabei entſtehen neue allgemeine Vorſtellungs- Gebilde, welche erſt die wahrgenommenen Thatſachen erklären und das „Kauſalitäts-Bedürfniß der Vernunft befriedigen“. *) E. Haeckel, Geſammelte populäre Vorträge. Bonn 1878.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/361
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 345. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/361>, abgerufen am 03.05.2024.