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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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XIV. Der biologische Zweckbegriff.
Theilen der Maschinen. Es war daher ganz naturgemäß, daß
die ältere naive Naturbetrachtung für die Entstehung und die
Lebensthätigkeit der organischen Wesen einen Schöpfer in An-
spruch nahm, der mit "Weisheit und Verstand alle Dinge ge-
ordnet" hatte, und der jedes Thier und jede Pflanze ihrem
besonderen Lebenszwecke entsprechend organisirt hatte. Gewöhnlich
wurde dieser "allmächtige Schöpfer Himmels und der Erden"
durchaus anthropomorph gedacht; er schuf "jegliches Wesen nach
seiner Art". Solange dabei dem Menschen der Schöpfer noch
in menschlicher Gestalt erschien, denkend mit seinem Gehirn,
sehend mit seinen Augen, formend mit seinen Händen, konnte
man sich von diesem "göttlichen Maschinenbauer" und von seiner
künstlerischen Arbeit in der großen Schöpfungs-Werkstätte noch
eine anschauliche Vorstellung machen. Viel schwieriger wurde
dies, als sich der Gottesbegriff läuterte und man in dem "un-
sichtbaren Gott" einen Schöpfer ohne Organe (-- ein gasförmiges
Wesen --) erblickte. Noch unbegreiflicher endlich wurden diese
anthropistischen Vorstellungen, als die Physiologie an die Stelle
des bewußt bauenden Gottes die unbewußt schaffende "Lebens-
kraft
" setzte -- eine unbekannte, zweckmäßig thätige Naturkraft,
welche von den bekannten physikalischen und chemischen Kräften
verschieden war und diese nur zeitweise -- auf Lebenszeit -- in
Dienst nahm. Dieser Vitalismus blieb noch bis um die
Mitte unseres Jahrhunderts herrschend; er fand seine thatsächliche
Widerlegung erst durch den großen Physiologen Johannes
Müller
in Berlin. Zwar war auch dieser gewaltige Biologe
(gleich allen anderen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts)
im Glauben an die Lebenskraft aufgewachsen und hielt sie für
die Erklärung der "letzten Lebensursachen" für unentbehrlich,
aber er führte zugleich in seinem klassischen, noch heute unüber-
troffenen Lehrbuch der Physiologie (1833) dem apogogischen
Beweis, daß eigentlich nichts mit ihr anzufangen ist. Müller

XIV. Der biologiſche Zweckbegriff.
Theilen der Maſchinen. Es war daher ganz naturgemäß, daß
die ältere naive Naturbetrachtung für die Entſtehung und die
Lebensthätigkeit der organiſchen Weſen einen Schöpfer in An-
ſpruch nahm, der mit „Weisheit und Verſtand alle Dinge ge-
ordnet“ hatte, und der jedes Thier und jede Pflanze ihrem
beſonderen Lebenszwecke entſprechend organiſirt hatte. Gewöhnlich
wurde dieſer „allmächtige Schöpfer Himmels und der Erden“
durchaus anthropomorph gedacht; er ſchuf „jegliches Weſen nach
ſeiner Art“. Solange dabei dem Menſchen der Schöpfer noch
in menſchlicher Geſtalt erſchien, denkend mit ſeinem Gehirn,
ſehend mit ſeinen Augen, formend mit ſeinen Händen, konnte
man ſich von dieſem „göttlichen Maſchinenbauer“ und von ſeiner
künſtleriſchen Arbeit in der großen Schöpfungs-Werkſtätte noch
eine anſchauliche Vorſtellung machen. Viel ſchwieriger wurde
dies, als ſich der Gottesbegriff läuterte und man in dem „un-
ſichtbaren Gott“ einen Schöpfer ohne Organe (— ein gasförmiges
Weſen —) erblickte. Noch unbegreiflicher endlich wurden dieſe
anthropiſtiſchen Vorſtellungen, als die Phyſiologie an die Stelle
des bewußt bauenden Gottes die unbewußt ſchaffende „Lebens-
kraft
“ ſetzte — eine unbekannte, zweckmäßig thätige Naturkraft,
welche von den bekannten phyſikaliſchen und chemiſchen Kräften
verſchieden war und dieſe nur zeitweiſe — auf Lebenszeit — in
Dienſt nahm. Dieſer Vitalismus blieb noch bis um die
Mitte unſeres Jahrhunderts herrſchend; er fand ſeine thatſächliche
Widerlegung erſt durch den großen Phyſiologen Johannes
Müller
in Berlin. Zwar war auch dieſer gewaltige Biologe
(gleich allen anderen in der erſten Hälfte des 19. Jahrhunderts)
im Glauben an die Lebenskraft aufgewachſen und hielt ſie für
die Erklärung der „letzten Lebensurſachen“ für unentbehrlich,
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Beweis, daß eigentlich nichts mit ihr anzufangen iſt. Müller

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[303/0319] XIV. Der biologiſche Zweckbegriff. Theilen der Maſchinen. Es war daher ganz naturgemäß, daß die ältere naive Naturbetrachtung für die Entſtehung und die Lebensthätigkeit der organiſchen Weſen einen Schöpfer in An- ſpruch nahm, der mit „Weisheit und Verſtand alle Dinge ge- ordnet“ hatte, und der jedes Thier und jede Pflanze ihrem beſonderen Lebenszwecke entſprechend organiſirt hatte. Gewöhnlich wurde dieſer „allmächtige Schöpfer Himmels und der Erden“ durchaus anthropomorph gedacht; er ſchuf „jegliches Weſen nach ſeiner Art“. Solange dabei dem Menſchen der Schöpfer noch in menſchlicher Geſtalt erſchien, denkend mit ſeinem Gehirn, ſehend mit ſeinen Augen, formend mit ſeinen Händen, konnte man ſich von dieſem „göttlichen Maſchinenbauer“ und von ſeiner künſtleriſchen Arbeit in der großen Schöpfungs-Werkſtätte noch eine anſchauliche Vorſtellung machen. Viel ſchwieriger wurde dies, als ſich der Gottesbegriff läuterte und man in dem „un- ſichtbaren Gott“ einen Schöpfer ohne Organe (— ein gasförmiges Weſen —) erblickte. Noch unbegreiflicher endlich wurden dieſe anthropiſtiſchen Vorſtellungen, als die Phyſiologie an die Stelle des bewußt bauenden Gottes die unbewußt ſchaffende „Lebens- kraft“ ſetzte — eine unbekannte, zweckmäßig thätige Naturkraft, welche von den bekannten phyſikaliſchen und chemiſchen Kräften verſchieden war und dieſe nur zeitweiſe — auf Lebenszeit — in Dienſt nahm. Dieſer Vitalismus blieb noch bis um die Mitte unſeres Jahrhunderts herrſchend; er fand ſeine thatſächliche Widerlegung erſt durch den großen Phyſiologen Johannes Müller in Berlin. Zwar war auch dieſer gewaltige Biologe (gleich allen anderen in der erſten Hälfte des 19. Jahrhunderts) im Glauben an die Lebenskraft aufgewachſen und hielt ſie für die Erklärung der „letzten Lebensurſachen“ für unentbehrlich, aber er führte zugleich in ſeinem klaſſiſchen, noch heute unüber- troffenen Lehrbuch der Phyſiologie (1833) dem apogogiſchen Beweis, daß eigentlich nichts mit ihr anzufangen iſt. Müller

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 303. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/319>, abgerufen am 25.11.2024.