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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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XII. Wesen des Aethers.
war; ihr "Psychomonismus" behauptet: "Es existirt nur
eins, und das ist meine Psyche." Uns scheint diese kühne
spiritualistische Behauptung auf einer irrthümlichen Schluß-
folgerung aus der richtigen kritischen Erkenntniß Kant's zu
beruhen, daß wir die umgebende Außenwelt nur in derjenigen
Erscheinung erkennen können, welche uns durch unsere mensch-
lichen Erkenntniß-Organe zugänglich ist, durch das Gehirn
und die Sinnesorgane. Wenn wir aber auch durch deren
Funktion nur eine unvollkommene und beschränkte Kenntniß von
der Körperwelt erlangen können, so dürfen wir daraus nicht
das Recht entnehmen, ihre Existenz zu leugnen. In meiner
Vorstellung wenigstens existirt der Aether ebenso sicher wie
die Masse; ebenso sicher wie ich selbst, wenn ich jetzt darüber
nachdenke und schreibe. Wie wir uns von der Realität der
ponderablen Materie durch Maß und Gewicht, durch chemische
und mechanische Experimente überzeugen, so von derjenigen des
imponderablen Aethers durch die optischen und elektrischen
Erfahrungen und Versuche.

Wesen des Aethers. Wenn nun auch heute von fast
allen Physikern die reale Existenz des Aethers als eine positive
Thatsache betrachtet wird, und wenn uns auch viele Wirkungen
dieser wunderbaren Materie durch unzählige Erfahrungen, be-
sonders optische und elektrische Versuche, genau bekannt sind,
so ist es doch bisher nicht gelungen, Klarheit und Sicherheit
über ihr eigentliches Wesen zu gewinnen. Vielmehr gehen
auch heute noch die Ansichten der hervorragendsten Physiker,
die sie speciell studirt haben, sehr weit aus einander; ja sie
widersprechen sich sogar in den wichtigsten Punkten. Es steht
daher Jedem frei, sich bei der Wahl zwischen den wider-
sprechenden Hypothesen seine eigene Meinung zu bilden, ent-
sprechend dem Grade seiner Sachkenntniß und Urtheilskraft (die
ja beide immer unvollkommen bleiben!). Die Meinung, die

XII. Weſen des Aethers.
war; ihr „Pſychomonismus“ behauptet: „Es exiſtirt nur
eins, und das iſt meine Pſyche.“ Uns ſcheint dieſe kühne
ſpiritualiſtiſche Behauptung auf einer irrthümlichen Schluß-
folgerung aus der richtigen kritiſchen Erkenntniß Kant's zu
beruhen, daß wir die umgebende Außenwelt nur in derjenigen
Erſcheinung erkennen können, welche uns durch unſere menſch-
lichen Erkenntniß-Organe zugänglich iſt, durch das Gehirn
und die Sinnesorgane. Wenn wir aber auch durch deren
Funktion nur eine unvollkommene und beſchränkte Kenntniß von
der Körperwelt erlangen können, ſo dürfen wir daraus nicht
das Recht entnehmen, ihre Exiſtenz zu leugnen. In meiner
Vorſtellung wenigſtens exiſtirt der Aether ebenſo ſicher wie
die Maſſe; ebenſo ſicher wie ich ſelbſt, wenn ich jetzt darüber
nachdenke und ſchreibe. Wie wir uns von der Realität der
ponderablen Materie durch Maß und Gewicht, durch chemiſche
und mechaniſche Experimente überzeugen, ſo von derjenigen des
imponderablen Aethers durch die optiſchen und elektriſchen
Erfahrungen und Verſuche.

Weſen des Aethers. Wenn nun auch heute von faſt
allen Phyſikern die reale Exiſtenz des Aethers als eine poſitive
Thatſache betrachtet wird, und wenn uns auch viele Wirkungen
dieſer wunderbaren Materie durch unzählige Erfahrungen, be-
ſonders optiſche und elektriſche Verſuche, genau bekannt ſind,
ſo iſt es doch bisher nicht gelungen, Klarheit und Sicherheit
über ihr eigentliches Weſen zu gewinnen. Vielmehr gehen
auch heute noch die Anſichten der hervorragendſten Phyſiker,
die ſie ſpeciell ſtudirt haben, ſehr weit aus einander; ja ſie
widerſprechen ſich ſogar in den wichtigſten Punkten. Es ſteht
daher Jedem frei, ſich bei der Wahl zwiſchen den wider-
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ſprechend dem Grade ſeiner Sachkenntniß und Urtheilskraft (die
ja beide immer unvollkommen bleiben!). Die Meinung, die

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[261/0277] XII. Weſen des Aethers. war; ihr „Pſychomonismus“ behauptet: „Es exiſtirt nur eins, und das iſt meine Pſyche.“ Uns ſcheint dieſe kühne ſpiritualiſtiſche Behauptung auf einer irrthümlichen Schluß- folgerung aus der richtigen kritiſchen Erkenntniß Kant's zu beruhen, daß wir die umgebende Außenwelt nur in derjenigen Erſcheinung erkennen können, welche uns durch unſere menſch- lichen Erkenntniß-Organe zugänglich iſt, durch das Gehirn und die Sinnesorgane. Wenn wir aber auch durch deren Funktion nur eine unvollkommene und beſchränkte Kenntniß von der Körperwelt erlangen können, ſo dürfen wir daraus nicht das Recht entnehmen, ihre Exiſtenz zu leugnen. In meiner Vorſtellung wenigſtens exiſtirt der Aether ebenſo ſicher wie die Maſſe; ebenſo ſicher wie ich ſelbſt, wenn ich jetzt darüber nachdenke und ſchreibe. Wie wir uns von der Realität der ponderablen Materie durch Maß und Gewicht, durch chemiſche und mechaniſche Experimente überzeugen, ſo von derjenigen des imponderablen Aethers durch die optiſchen und elektriſchen Erfahrungen und Verſuche. Weſen des Aethers. Wenn nun auch heute von faſt allen Phyſikern die reale Exiſtenz des Aethers als eine poſitive Thatſache betrachtet wird, und wenn uns auch viele Wirkungen dieſer wunderbaren Materie durch unzählige Erfahrungen, be- ſonders optiſche und elektriſche Verſuche, genau bekannt ſind, ſo iſt es doch bisher nicht gelungen, Klarheit und Sicherheit über ihr eigentliches Weſen zu gewinnen. Vielmehr gehen auch heute noch die Anſichten der hervorragendſten Phyſiker, die ſie ſpeciell ſtudirt haben, ſehr weit aus einander; ja ſie widerſprechen ſich ſogar in den wichtigſten Punkten. Es ſteht daher Jedem frei, ſich bei der Wahl zwiſchen den wider- ſprechenden Hypotheſen ſeine eigene Meinung zu bilden, ent- ſprechend dem Grade ſeiner Sachkenntniß und Urtheilskraft (die ja beide immer unvollkommen bleiben!). Die Meinung, die

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/277>, abgerufen am 22.11.2024.