begriff von Spinoza zurück, den ich mit Goethe für einen der erhabensten, tiefsten und wahrsten Gedanken aller Zeiten halte. Alle einzelnen Objekte der Welt, die unserer Er- kenntniß zugänglich sind, alle individuellen Formen des Daseins, sind nur besondere vergängliche Formen der Substanz, Acci- denzien oder Moden. Diese Modi sind körperliche Dinge, materielle Körper, wenn wir sie unter dem Attribut der Aus- dehnung (der "Raumerfüllung") betrachten, dagegen Kräfte oder Ideen, wenn wir sie unter dem Attribut des Denkens (der "Energie") betrachten. Auf diese Grundvorstellung von Spinoza kommt auch unser gereinigter Monismus nach 200 Jahren zurück; auch für uns sind Materie (der raum- erfüllende Stoff) und Energie (die bewegende Kraft) nur zwei untrennbare Attribute der einen Substanz.
Der kinetische Substanz-Begriff (Urprincip der Schwin- gung oder Vibration). Unter den verschiedenen Modifikationen, welche der fundamentale Substanz-Begriff in der neueren Physik, in Verbindung mit der herrschenden Atomistik angenommen hat, mögen hier nur zwei extrem divergirende Theorien kurz be- leuchtet werden, die kinetische und pyknotische. Beide Substanz- Theorien stimmen darin überein, daß es gelungen ist, alle ver- schiedenen Naturkräfte auf eine gemeinsame Urkraft zurück- zuführen; Schwere und Chemismus, Elektricität und Magnetis- mus, Licht und Wärme u. s. w. sind nur verschiedene Aeußerungs- weisen, Kraftformen oder Dynamoden einer einzigen Urkraft (Prodynamis). Diese gemeinsame, alleinige Urkraft wird meistens als eine schwingende Bewegung der kleinsten Massentheilchen gedacht, als eine Vibration der Atome. Die Atome selbst sind dem gewöhnlichen "kinetischen Substanz-Begriff" zufolge todte diskrete Körpertheilchen, welche im leeren Raum schwingen und in die Ferne wirken. Der eigentliche Begründer und an- gesehenste Vertreter dieser kinetischen Substanz-Theorie ist der
Der kinetiſche Subſtanz-Begriff. XII.
begriff von Spinoza zurück, den ich mit Goethe für einen der erhabenſten, tiefſten und wahrſten Gedanken aller Zeiten halte. Alle einzelnen Objekte der Welt, die unſerer Er- kenntniß zugänglich ſind, alle individuellen Formen des Daſeins, ſind nur beſondere vergängliche Formen der Subſtanz, Acci- denzien oder Moden. Dieſe Modi ſind körperliche Dinge, materielle Körper, wenn wir ſie unter dem Attribut der Aus- dehnung (der „Raumerfüllung“) betrachten, dagegen Kräfte oder Ideen, wenn wir ſie unter dem Attribut des Denkens (der „Energie“) betrachten. Auf dieſe Grundvorſtellung von Spinoza kommt auch unſer gereinigter Monismus nach 200 Jahren zurück; auch für uns ſind Materie (der raum- erfüllende Stoff) und Energie (die bewegende Kraft) nur zwei untrennbare Attribute der einen Subſtanz.
Der kinetiſche Subſtanz-Begriff (Urprincip der Schwin- gung oder Vibration). Unter den verſchiedenen Modifikationen, welche der fundamentale Subſtanz-Begriff in der neueren Phyſik, in Verbindung mit der herrſchenden Atomiſtik angenommen hat, mögen hier nur zwei extrem divergirende Theorien kurz be- leuchtet werden, die kinetiſche und pyknotiſche. Beide Subſtanz- Theorien ſtimmen darin überein, daß es gelungen iſt, alle ver- ſchiedenen Naturkräfte auf eine gemeinſame Urkraft zurück- zuführen; Schwere und Chemismus, Elektricität und Magnetis- mus, Licht und Wärme u. ſ. w. ſind nur verſchiedene Aeußerungs- weiſen, Kraftformen oder Dynamoden einer einzigen Urkraft (Prodynamiſ). Dieſe gemeinſame, alleinige Urkraft wird meiſtens als eine ſchwingende Bewegung der kleinſten Maſſentheilchen gedacht, als eine Vibration der Atome. Die Atome ſelbſt ſind dem gewöhnlichen „kinetiſchen Subſtanz-Begriff“ zufolge todte diskrete Körpertheilchen, welche im leeren Raum ſchwingen und in die Ferne wirken. Der eigentliche Begründer und an- geſehenſte Vertreter dieſer kinetiſchen Subſtanz-Theorie iſt der
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0266"n="250"/><fwplace="top"type="header">Der kinetiſche Subſtanz-Begriff. <hirendition="#aq">XII.</hi></fw><lb/>
begriff von <hirendition="#g">Spinoza</hi> zurück, den ich mit <hirendition="#g">Goethe</hi> für einen<lb/>
der erhabenſten, tiefſten und wahrſten Gedanken aller Zeiten<lb/>
halte. Alle einzelnen Objekte der Welt, die unſerer Er-<lb/>
kenntniß zugänglich ſind, alle individuellen Formen des Daſeins,<lb/>ſind nur beſondere vergängliche Formen der Subſtanz, <hirendition="#g">Acci-<lb/>
denzien</hi> oder <hirendition="#g">Moden</hi>. Dieſe <hirendition="#g">Modi</hi>ſind körperliche Dinge,<lb/>
materielle Körper, wenn wir ſie unter dem Attribut der <hirendition="#g">Aus-<lb/>
dehnung</hi> (der „Raumerfüllung“) betrachten, dagegen Kräfte<lb/>
oder Ideen, wenn wir ſie unter dem Attribut des <hirendition="#g">Denkens</hi><lb/>
(der „Energie“) betrachten. Auf dieſe Grundvorſtellung von<lb/><hirendition="#g">Spinoza</hi> kommt auch unſer gereinigter <hirendition="#g">Monismus</hi> nach<lb/>
200 Jahren zurück; auch für uns ſind <hirendition="#g">Materie</hi> (der raum-<lb/>
erfüllende Stoff) und <hirendition="#g">Energie</hi> (die bewegende Kraft) nur zwei<lb/>
untrennbare Attribute der einen Subſtanz.</p><lb/><p><hirendition="#b">Der kinetiſche Subſtanz-Begriff</hi> (Urprincip der Schwin-<lb/>
gung oder Vibration). Unter den verſchiedenen Modifikationen,<lb/>
welche der fundamentale Subſtanz-Begriff in der neueren Phyſik,<lb/>
in Verbindung mit der herrſchenden Atomiſtik angenommen hat,<lb/>
mögen hier nur zwei extrem divergirende Theorien kurz be-<lb/>
leuchtet werden, die kinetiſche und pyknotiſche. Beide Subſtanz-<lb/>
Theorien ſtimmen darin überein, daß es gelungen iſt, alle ver-<lb/>ſchiedenen Naturkräfte auf eine gemeinſame Urkraft zurück-<lb/>
zuführen; Schwere und Chemismus, Elektricität und Magnetis-<lb/>
mus, Licht und Wärme u. ſ. w. ſind nur verſchiedene Aeußerungs-<lb/>
weiſen, Kraftformen oder <hirendition="#g">Dynamoden</hi> einer einzigen <hirendition="#g">Urkraft</hi><lb/><hirendition="#aq">(Prodynamiſ)</hi>. Dieſe gemeinſame, alleinige Urkraft wird meiſtens<lb/>
als eine ſchwingende Bewegung der kleinſten Maſſentheilchen<lb/>
gedacht, als eine <hirendition="#g">Vibration der Atome</hi>. Die Atome ſelbſt<lb/>ſind dem gewöhnlichen „kinetiſchen Subſtanz-Begriff“ zufolge<lb/>
todte diskrete Körpertheilchen, welche im leeren Raum ſchwingen<lb/>
und in die Ferne wirken. Der eigentliche Begründer und an-<lb/>
geſehenſte Vertreter dieſer kinetiſchen Subſtanz-Theorie iſt der<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[250/0266]
Der kinetiſche Subſtanz-Begriff. XII.
begriff von Spinoza zurück, den ich mit Goethe für einen
der erhabenſten, tiefſten und wahrſten Gedanken aller Zeiten
halte. Alle einzelnen Objekte der Welt, die unſerer Er-
kenntniß zugänglich ſind, alle individuellen Formen des Daſeins,
ſind nur beſondere vergängliche Formen der Subſtanz, Acci-
denzien oder Moden. Dieſe Modi ſind körperliche Dinge,
materielle Körper, wenn wir ſie unter dem Attribut der Aus-
dehnung (der „Raumerfüllung“) betrachten, dagegen Kräfte
oder Ideen, wenn wir ſie unter dem Attribut des Denkens
(der „Energie“) betrachten. Auf dieſe Grundvorſtellung von
Spinoza kommt auch unſer gereinigter Monismus nach
200 Jahren zurück; auch für uns ſind Materie (der raum-
erfüllende Stoff) und Energie (die bewegende Kraft) nur zwei
untrennbare Attribute der einen Subſtanz.
Der kinetiſche Subſtanz-Begriff (Urprincip der Schwin-
gung oder Vibration). Unter den verſchiedenen Modifikationen,
welche der fundamentale Subſtanz-Begriff in der neueren Phyſik,
in Verbindung mit der herrſchenden Atomiſtik angenommen hat,
mögen hier nur zwei extrem divergirende Theorien kurz be-
leuchtet werden, die kinetiſche und pyknotiſche. Beide Subſtanz-
Theorien ſtimmen darin überein, daß es gelungen iſt, alle ver-
ſchiedenen Naturkräfte auf eine gemeinſame Urkraft zurück-
zuführen; Schwere und Chemismus, Elektricität und Magnetis-
mus, Licht und Wärme u. ſ. w. ſind nur verſchiedene Aeußerungs-
weiſen, Kraftformen oder Dynamoden einer einzigen Urkraft
(Prodynamiſ). Dieſe gemeinſame, alleinige Urkraft wird meiſtens
als eine ſchwingende Bewegung der kleinſten Maſſentheilchen
gedacht, als eine Vibration der Atome. Die Atome ſelbſt
ſind dem gewöhnlichen „kinetiſchen Subſtanz-Begriff“ zufolge
todte diskrete Körpertheilchen, welche im leeren Raum ſchwingen
und in die Ferne wirken. Der eigentliche Begründer und an-
geſehenſte Vertreter dieſer kinetiſchen Subſtanz-Theorie iſt der
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/266>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.