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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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XI. Mystische Seelenwanderung.
Seele, welcher dann in der christlichen Glaubenslehre zu einem
der theoretisch wichtigsten und praktisch wirkungsvollsten Artikel
wurde. Der Leib ist sterblich, materiell, physisch; die Seele ist
unsterblich, immateriell, metaphysisch. Beide sind nur während
des individuellen Lebens vorübergehend verbunden. Da Plato
ein ewiges Leben der autonomen Seele sowohl vor als nach dieser
zeitweiligen Verbindung annimmt, ist er auch Anhänger der
"Seelenwanderung"; die Seelen existirten als solche, als
"ewige Ideen", schon bevor sie in den menschlichen Körper ein-
traten. Nachdem sie denselben verlassen, suchen sie sich als Wohnort
einen anderen Körper aus, der ihrer Beschaffenheit am meisten
angemessen ist; die Seelen von grausamen Tyrannen schlüpfen
in den Körper von Wölfen und Geiern, diejenigen von tugend-
haften Arbeitern in den Leib von Bienen und Ameisen u. s. w.
Die kindlichen und naiven Anschauungen dieser platonischen
Seelenlehre liegen auf der Hand; bei weiterem Eindringen er-
scheinen sie völlig unvereinbar mit den sichersten psychologischen
Erkenntnissen, welche wir der modernen Anatomie und Physio-
logie, der fortgeschrittenen Histologie und Ontogenie verdanken;
wir erwähnen sie hier nur, weil sie trotz ihrer Absurdität den
größten kulturhistorischen Einfluß erlangten. Denn einerseits
knüpfte an die platonische Seelenlehre die Mystik der Neu-
platoniker an, welche in das Christenthum Eingang gewann;
andererseits wurde sie später zu einem Hauptpfeiler der spiri-
tualistischen und idealistischen Philosophie. Die platonische
"Idee" verwandelte sich später in den Begriff der Seelen-
Substanz, die allerdings ebenso unfaßbar und metaphysisch
ist, aber doch oft einen physikalischen Anschein gewann.

Seelen-Substanz. Die Auffassung der Seele als "Sub-
stanz
" ist bei vielen Psychologen sehr unklar; bald wird dieselbe
in abstraktem und idealistischem Sinne als ein "immaterielles
Wesen" von ganz eigenthümlicher Art betrachtet, bald in kon-

XI. Myſtiſche Seelenwanderung.
Seele, welcher dann in der chriſtlichen Glaubenslehre zu einem
der theoretiſch wichtigſten und praktiſch wirkungsvollſten Artikel
wurde. Der Leib iſt ſterblich, materiell, phyſiſch; die Seele iſt
unſterblich, immateriell, metaphyſiſch. Beide ſind nur während
des individuellen Lebens vorübergehend verbunden. Da Plato
ein ewiges Leben der autonomen Seele ſowohl vor als nach dieſer
zeitweiligen Verbindung annimmt, iſt er auch Anhänger der
Seelenwanderung“; die Seelen exiſtirten als ſolche, als
„ewige Ideen“, ſchon bevor ſie in den menſchlichen Körper ein-
traten. Nachdem ſie denſelben verlaſſen, ſuchen ſie ſich als Wohnort
einen anderen Körper aus, der ihrer Beſchaffenheit am meiſten
angemeſſen iſt; die Seelen von grauſamen Tyrannen ſchlüpfen
in den Körper von Wölfen und Geiern, diejenigen von tugend-
haften Arbeitern in den Leib von Bienen und Ameiſen u. ſ. w.
Die kindlichen und naiven Anſchauungen dieſer platoniſchen
Seelenlehre liegen auf der Hand; bei weiterem Eindringen er-
ſcheinen ſie völlig unvereinbar mit den ſicherſten pſychologiſchen
Erkenntniſſen, welche wir der modernen Anatomie und Phyſio-
logie, der fortgeſchrittenen Hiſtologie und Ontogenie verdanken;
wir erwähnen ſie hier nur, weil ſie trotz ihrer Abſurdität den
größten kulturhiſtoriſchen Einfluß erlangten. Denn einerſeits
knüpfte an die platoniſche Seelenlehre die Myſtik der Neu-
platoniker an, welche in das Chriſtenthum Eingang gewann;
andererſeits wurde ſie ſpäter zu einem Hauptpfeiler der ſpiri-
tualiſtiſchen und idealiſtiſchen Philoſophie. Die platoniſche
Idee“ verwandelte ſich ſpäter in den Begriff der Seelen-
Subſtanz, die allerdings ebenſo unfaßbar und metaphyſiſch
iſt, aber doch oft einen phyſikaliſchen Anſchein gewann.

Seelen-Subſtanz. Die Auffaſſung der Seele als „Sub-
ſtanz
“ iſt bei vielen Pſychologen ſehr unklar; bald wird dieſelbe
in abſtraktem und idealiſtiſchem Sinne als ein „immaterielles
Weſen“ von ganz eigenthümlicher Art betrachtet, bald in kon-

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[229/0245] XI. Myſtiſche Seelenwanderung. Seele, welcher dann in der chriſtlichen Glaubenslehre zu einem der theoretiſch wichtigſten und praktiſch wirkungsvollſten Artikel wurde. Der Leib iſt ſterblich, materiell, phyſiſch; die Seele iſt unſterblich, immateriell, metaphyſiſch. Beide ſind nur während des individuellen Lebens vorübergehend verbunden. Da Plato ein ewiges Leben der autonomen Seele ſowohl vor als nach dieſer zeitweiligen Verbindung annimmt, iſt er auch Anhänger der „Seelenwanderung“; die Seelen exiſtirten als ſolche, als „ewige Ideen“, ſchon bevor ſie in den menſchlichen Körper ein- traten. Nachdem ſie denſelben verlaſſen, ſuchen ſie ſich als Wohnort einen anderen Körper aus, der ihrer Beſchaffenheit am meiſten angemeſſen iſt; die Seelen von grauſamen Tyrannen ſchlüpfen in den Körper von Wölfen und Geiern, diejenigen von tugend- haften Arbeitern in den Leib von Bienen und Ameiſen u. ſ. w. Die kindlichen und naiven Anſchauungen dieſer platoniſchen Seelenlehre liegen auf der Hand; bei weiterem Eindringen er- ſcheinen ſie völlig unvereinbar mit den ſicherſten pſychologiſchen Erkenntniſſen, welche wir der modernen Anatomie und Phyſio- logie, der fortgeſchrittenen Hiſtologie und Ontogenie verdanken; wir erwähnen ſie hier nur, weil ſie trotz ihrer Abſurdität den größten kulturhiſtoriſchen Einfluß erlangten. Denn einerſeits knüpfte an die platoniſche Seelenlehre die Myſtik der Neu- platoniker an, welche in das Chriſtenthum Eingang gewann; andererſeits wurde ſie ſpäter zu einem Hauptpfeiler der ſpiri- tualiſtiſchen und idealiſtiſchen Philoſophie. Die platoniſche „Idee“ verwandelte ſich ſpäter in den Begriff der Seelen- Subſtanz, die allerdings ebenſo unfaßbar und metaphyſiſch iſt, aber doch oft einen phyſikaliſchen Anſchein gewann. Seelen-Subſtanz. Die Auffaſſung der Seele als „Sub- ſtanz“ iſt bei vielen Pſychologen ſehr unklar; bald wird dieſelbe in abſtraktem und idealiſtiſchem Sinne als ein „immaterielles Weſen“ von ganz eigenthümlicher Art betrachtet, bald in kon-

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 229. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/245>, abgerufen am 22.11.2024.