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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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IX. Zellvereins-Seele (Cönopsyche).
Wenn wir dieselbe mit den entsprechenden Seelenthätigkeiten
höherer, vielzelliger Thiere vergleichen, so scheint kaum ein psycho-
logischer Unterschied zu bestehen; die sensiblen und motorischen
Organelle jener Protozoen scheinen dasselbe zu leisten wie die
Sinnesorgane, Nerven und Muskeln dieser Metazoen. Man hat
sogar in dem großen Zellkern (Meganucleus) der Infusorien
ein Central-Organ der Seelenthätigkeit erblickt, welches in ihrem
einzelligen Organismus eine ähnliche Rolle spiele wie das Gehirn
im Seelenleben höherer Thiere. Indessen ist sehr schwer zu
entscheiden, wie weit diese Vergleiche berechtigt sind; auch gehen
darüber die Ansichten der speciellen Infusorien-Kenner weit aus
einander. Die Einen fassen alle spontanen Körper-Bewegungen
derselben als automatische oder impulsive, alle Reiz-Bewegungen
als Reflexe auf; die Anderen erblicken darin theilweise willkür-
liche und absichtliche Bewegungen. Während die Letzteren den
Infusorien bereits ein gewisses Bewußtsein, eine einheitliche Ich-
Vorstellung zuschreiben, wird diese von den Ersteren geleugnet.
Gleichviel, wie man diese höchst schwierige Frage entscheiden will,
so steht doch so viel fest, daß uns diese einzelligen Protozoen
eine hochentwickelte Zellseele zeigen, welche für die richtige
Beurtheilung der Psyche unserer ältesten einzelligen Vorfahren
von höchstem Interesse ist.

II. Zellvereins-Seele oder Cönobial-Psyche (Coenopsyche);
zweite Hauptstufe der phyletischen Psychogenesis.
Die individuelle Entwickelung beginnt beim Menschen wie bei allen
anderen vielzelligen Thieren mit der wiederholten Theilung einer
einfachen Zelle. Die Stammzelle (Cytula) oder die "befruchtete
Eizelle" zerfällt durch den Vorgang der gewöhnlichen indirekten
Zelltheilung zunächst in zwei Tochterzellen; indem dieser Vorgang
sich wiederholt, entstehen (bei der "äqualen Eifurchung") nach
einander 4, 8, 16, 32, 64 gleiche "Furchungszellen oder Blasto-
meren". Gewöhnlich (d. h. bei der Mehrzahl der Thiere) tritt

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IX. Zellvereins-Seele (Cönopſyche).
Wenn wir dieſelbe mit den entſprechenden Seelenthätigkeiten
höherer, vielzelliger Thiere vergleichen, ſo ſcheint kaum ein pſycho-
logiſcher Unterſchied zu beſtehen; die ſenſiblen und motoriſchen
Organelle jener Protozoen ſcheinen dasſelbe zu leiſten wie die
Sinnesorgane, Nerven und Muskeln dieſer Metazoen. Man hat
ſogar in dem großen Zellkern (Meganucleuſ) der Infuſorien
ein Central-Organ der Seelenthätigkeit erblickt, welches in ihrem
einzelligen Organismus eine ähnliche Rolle ſpiele wie das Gehirn
im Seelenleben höherer Thiere. Indeſſen iſt ſehr ſchwer zu
entſcheiden, wie weit dieſe Vergleiche berechtigt ſind; auch gehen
darüber die Anſichten der ſpeciellen Infuſorien-Kenner weit aus
einander. Die Einen faſſen alle ſpontanen Körper-Bewegungen
derſelben als automatiſche oder impulſive, alle Reiz-Bewegungen
als Reflexe auf; die Anderen erblicken darin theilweiſe willkür-
liche und abſichtliche Bewegungen. Während die Letzteren den
Infuſorien bereits ein gewiſſes Bewußtſein, eine einheitliche Ich-
Vorſtellung zuſchreiben, wird dieſe von den Erſteren geleugnet.
Gleichviel, wie man dieſe höchſt ſchwierige Frage entſcheiden will,
ſo ſteht doch ſo viel feſt, daß uns dieſe einzelligen Protozoen
eine hochentwickelte Zellſeele zeigen, welche für die richtige
Beurtheilung der Pſyche unſerer älteſten einzelligen Vorfahren
von höchſtem Intereſſe iſt.

II. Zellvereins-Seele oder Cönobial-Pſyche (Coenopſyche);
zweite Hauptſtufe der phyletiſchen Pſychogeneſis.
Die individuelle Entwickelung beginnt beim Menſchen wie bei allen
anderen vielzelligen Thieren mit der wiederholten Theilung einer
einfachen Zelle. Die Stammzelle (Cytula) oder die „befruchtete
Eizelle“ zerfällt durch den Vorgang der gewöhnlichen indirekten
Zelltheilung zunächſt in zwei Tochterzellen; indem dieſer Vorgang
ſich wiederholt, entſtehen (bei der „äqualen Eifurchung“) nach
einander 4, 8, 16, 32, 64 gleiche „Furchungszellen oder Blaſto-
meren“. Gewöhnlich (d. h. bei der Mehrzahl der Thiere) tritt

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[179/0195] IX. Zellvereins-Seele (Cönopſyche). Wenn wir dieſelbe mit den entſprechenden Seelenthätigkeiten höherer, vielzelliger Thiere vergleichen, ſo ſcheint kaum ein pſycho- logiſcher Unterſchied zu beſtehen; die ſenſiblen und motoriſchen Organelle jener Protozoen ſcheinen dasſelbe zu leiſten wie die Sinnesorgane, Nerven und Muskeln dieſer Metazoen. Man hat ſogar in dem großen Zellkern (Meganucleuſ) der Infuſorien ein Central-Organ der Seelenthätigkeit erblickt, welches in ihrem einzelligen Organismus eine ähnliche Rolle ſpiele wie das Gehirn im Seelenleben höherer Thiere. Indeſſen iſt ſehr ſchwer zu entſcheiden, wie weit dieſe Vergleiche berechtigt ſind; auch gehen darüber die Anſichten der ſpeciellen Infuſorien-Kenner weit aus einander. Die Einen faſſen alle ſpontanen Körper-Bewegungen derſelben als automatiſche oder impulſive, alle Reiz-Bewegungen als Reflexe auf; die Anderen erblicken darin theilweiſe willkür- liche und abſichtliche Bewegungen. Während die Letzteren den Infuſorien bereits ein gewiſſes Bewußtſein, eine einheitliche Ich- Vorſtellung zuſchreiben, wird dieſe von den Erſteren geleugnet. Gleichviel, wie man dieſe höchſt ſchwierige Frage entſcheiden will, ſo ſteht doch ſo viel feſt, daß uns dieſe einzelligen Protozoen eine hochentwickelte Zellſeele zeigen, welche für die richtige Beurtheilung der Pſyche unſerer älteſten einzelligen Vorfahren von höchſtem Intereſſe iſt. II. Zellvereins-Seele oder Cönobial-Pſyche (Coenopſyche); zweite Hauptſtufe der phyletiſchen Pſychogeneſis. Die individuelle Entwickelung beginnt beim Menſchen wie bei allen anderen vielzelligen Thieren mit der wiederholten Theilung einer einfachen Zelle. Die Stammzelle (Cytula) oder die „befruchtete Eizelle“ zerfällt durch den Vorgang der gewöhnlichen indirekten Zelltheilung zunächſt in zwei Tochterzellen; indem dieſer Vorgang ſich wiederholt, entſtehen (bei der „äqualen Eifurchung“) nach einander 4, 8, 16, 32, 64 gleiche „Furchungszellen oder Blaſto- meren“. Gewöhnlich (d. h. bei der Mehrzahl der Thiere) tritt 12*

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/195>, abgerufen am 23.11.2024.