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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Methoden der ontogenetischen Psychologie. VI.
"Seelenfragen" führt. Wie in jedem anderen Gebiete der orga-
nischen Entwickelungsgeschichte, so stelle ich auch hier zunächst
die beiden Hauptzweige derselben gegenüber, die ich zuerst 1866
unterschieden habe: die Keimesgeschichte (Ontogenie) und die
Stammesgeschichte (Phylogenie). Die Keimesgeschichte der
Seele,
die individuelle oder biontische Psychogenie, untersucht
die allmähliche und stufenweise Entwickelung der Seele in der
einzelnen Person und strebt nach Erkenntniß der Gesetze, welche
dieselbe ursächlich bedingen. Für einen wichtigen Abschnitt des
menschlichen Seelenlebens ist hier schon seit Jahrtausenden sehr
viel geschehen; denn die rationelle Pädagogik mußte sich ja
schon frühzeitig die Aufgabe stellen, theoretisch die stufenweise
Entwickelung und Bildungsfähigkeit der kindlichen Seele kennen
zu lernen, deren harmonische Ausbildung und Leitung sie prak-
tisch durchzuführen hatte. Allein die meisten Pädagogen waren
idealistische und dualistische Philosophen und gingen daher an
ihre Aufgabe von vornherein mit den althergebrachten Vor-
urtheilen der spiritualistischen Psychologie. Erst seit wenigen
Decennien ist dieser dogmatischen Richtung gegenüber auch in
der Schule die naturwissenschaftliche Methode zu größerer Geltung
gelangt; man bemüht sich jetzt mehr, auch in der Beurtheilung
der Kindes-Seele die Grundsätze der Entwickelungslehre zur An-
wendung zu bringen. Das individuelle Rohmaterial der kind-
lichen Seele ist ja bereits durch Vererbung von Eltern und
Voreltern qualitativ von vornherein gegeben; die Erziehung
hat die schöne Aufgabe, dasselbe durch intellektuelle Belehrung
und moralische Erziehung, also durch Anpassung, zur reichen
Blüthe zu entwickeln. Für die Kenntniß unserer frühesten psy-
chischen Entwickelung hat erst Wilhelm Preyer (1882) den
Grund gelegt in seiner interessanten Schrift "Die Seele des
Kindes, Beobachtungen über die geistige Entwickelung des Men-
schen in den ersten Lebensjahren". Für die Erkenntniß der

Methoden der ontogenetiſchen Pſychologie. VI.
„Seelenfragen“ führt. Wie in jedem anderen Gebiete der orga-
niſchen Entwickelungsgeſchichte, ſo ſtelle ich auch hier zunächſt
die beiden Hauptzweige derſelben gegenüber, die ich zuerſt 1866
unterſchieden habe: die Keimesgeſchichte (Ontogenie) und die
Stammesgeſchichte (Phylogenie). Die Keimesgeſchichte der
Seele,
die individuelle oder biontiſche Pſychogenie, unterſucht
die allmähliche und ſtufenweiſe Entwickelung der Seele in der
einzelnen Perſon und ſtrebt nach Erkenntniß der Geſetze, welche
dieſelbe urſächlich bedingen. Für einen wichtigen Abſchnitt des
menſchlichen Seelenlebens iſt hier ſchon ſeit Jahrtauſenden ſehr
viel geſchehen; denn die rationelle Pädagogik mußte ſich ja
ſchon frühzeitig die Aufgabe ſtellen, theoretiſch die ſtufenweiſe
Entwickelung und Bildungsfähigkeit der kindlichen Seele kennen
zu lernen, deren harmoniſche Ausbildung und Leitung ſie prak-
tiſch durchzuführen hatte. Allein die meiſten Pädagogen waren
idealiſtiſche und dualiſtiſche Philoſophen und gingen daher an
ihre Aufgabe von vornherein mit den althergebrachten Vor-
urtheilen der ſpiritualiſtiſchen Pſychologie. Erſt ſeit wenigen
Decennien iſt dieſer dogmatiſchen Richtung gegenüber auch in
der Schule die naturwiſſenſchaftliche Methode zu größerer Geltung
gelangt; man bemüht ſich jetzt mehr, auch in der Beurtheilung
der Kindes-Seele die Grundſätze der Entwickelungslehre zur An-
wendung zu bringen. Das individuelle Rohmaterial der kind-
lichen Seele iſt ja bereits durch Vererbung von Eltern und
Voreltern qualitativ von vornherein gegeben; die Erziehung
hat die ſchöne Aufgabe, dasſelbe durch intellektuelle Belehrung
und moraliſche Erziehung, alſo durch Anpaſſung, zur reichen
Blüthe zu entwickeln. Für die Kenntniß unſerer früheſten pſy-
chiſchen Entwickelung hat erſt Wilhelm Preyer (1882) den
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[120/0136] Methoden der ontogenetiſchen Pſychologie. VI. „Seelenfragen“ führt. Wie in jedem anderen Gebiete der orga- niſchen Entwickelungsgeſchichte, ſo ſtelle ich auch hier zunächſt die beiden Hauptzweige derſelben gegenüber, die ich zuerſt 1866 unterſchieden habe: die Keimesgeſchichte (Ontogenie) und die Stammesgeſchichte (Phylogenie). Die Keimesgeſchichte der Seele, die individuelle oder biontiſche Pſychogenie, unterſucht die allmähliche und ſtufenweiſe Entwickelung der Seele in der einzelnen Perſon und ſtrebt nach Erkenntniß der Geſetze, welche dieſelbe urſächlich bedingen. Für einen wichtigen Abſchnitt des menſchlichen Seelenlebens iſt hier ſchon ſeit Jahrtauſenden ſehr viel geſchehen; denn die rationelle Pädagogik mußte ſich ja ſchon frühzeitig die Aufgabe ſtellen, theoretiſch die ſtufenweiſe Entwickelung und Bildungsfähigkeit der kindlichen Seele kennen zu lernen, deren harmoniſche Ausbildung und Leitung ſie prak- tiſch durchzuführen hatte. Allein die meiſten Pädagogen waren idealiſtiſche und dualiſtiſche Philoſophen und gingen daher an ihre Aufgabe von vornherein mit den althergebrachten Vor- urtheilen der ſpiritualiſtiſchen Pſychologie. Erſt ſeit wenigen Decennien iſt dieſer dogmatiſchen Richtung gegenüber auch in der Schule die naturwiſſenſchaftliche Methode zu größerer Geltung gelangt; man bemüht ſich jetzt mehr, auch in der Beurtheilung der Kindes-Seele die Grundſätze der Entwickelungslehre zur An- wendung zu bringen. Das individuelle Rohmaterial der kind- lichen Seele iſt ja bereits durch Vererbung von Eltern und Voreltern qualitativ von vornherein gegeben; die Erziehung hat die ſchöne Aufgabe, dasſelbe durch intellektuelle Belehrung und moraliſche Erziehung, alſo durch Anpaſſung, zur reichen Blüthe zu entwickeln. Für die Kenntniß unſerer früheſten pſy- chiſchen Entwickelung hat erſt Wilhelm Preyer (1882) den Grund gelegt in ſeiner intereſſanten Schrift „Die Seele des Kindes, Beobachtungen über die geiſtige Entwickelung des Men- ſchen in den erſten Lebensjahren“. Für die Erkenntniß der

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/136>, abgerufen am 23.11.2024.