derselben für weitere gebildete Kreise geben und die Frage zu beantworten suchen, wie weit wir uns gegenwärtig deren Lösung genähert haben. Welche Stufe in der Erkenntniß der Wahrheit haben wir am Ende des neunzehnten Jahrhunderts wirklich erreicht? Und welche Fortschritte nach diesem unendlich entfernten Ziele haben wir im Laufe des- selben wirklich gemacht?
Die Antwort auf diese großen Fragen, die ich hier gebe, kann naturgemäß nur subjektiv und nur theilweise richtig sein; denn meine Kenntnisse der wirklichen Natur und meine Vernunft zur Beurtheilung ihres objektiven Wesens sind beschränkt, ebenso wie diejenigen aller anderen Menschen. Das Einzige, was ich für dieselben in Anspruch nehme, und was ich auch von meinen entschiedensten Gegnern verlangen muß, ist, daß meine monistische Philosophie von Anfang bis zu Ende ehrlich ist, d. h. der vollständige Ausdruck der Ueberzeugung, welche ich durch vieljähriges eifriges Forschen in der Natur und durch unablässiges Nachdenken über den wahren Grund ihrer Erschei- nungen erworben habe. Diese naturphilosophische Gedanken- Arbeit erstreckt sich jetzt über ein volles halbes Jahrhundert, und ich darf jetzt, in meinem 66. Lebensjahre, wohl annehmen, daß sie reif im menschlichen Sinne ist; ich bin auch völlig gewiß, daß diese "reife Frucht" vom Baume der Erkenntniß für die kurze Spanne des Daseins, die mir noch beschieden ist, keine bedeutende Vervollkommnung und keine principiellen Verände- rungen erfahren wird.
Alle wesentlichen und entscheidenden Anschauungen meiner monistischen und genetischen Philosophie habe ich schon vor 33 Jahren in meiner "Generellen Morphologie der Organismen" niedergelegt, einem weitschweifigen und schwer- fällig geschriebenen Werke, welches nur sehr wenig Leser gefunden hat. Es war der erste Versuch, die neu begründete Entwickelungs-
Vorwort.
derſelben für weitere gebildete Kreiſe geben und die Frage zu beantworten ſuchen, wie weit wir uns gegenwärtig deren Löſung genähert haben. Welche Stufe in der Erkenntniß der Wahrheit haben wir am Ende des neunzehnten Jahrhunderts wirklich erreicht? Und welche Fortſchritte nach dieſem unendlich entfernten Ziele haben wir im Laufe des- ſelben wirklich gemacht?
Die Antwort auf dieſe großen Fragen, die ich hier gebe, kann naturgemäß nur ſubjektiv und nur theilweiſe richtig ſein; denn meine Kenntniſſe der wirklichen Natur und meine Vernunft zur Beurtheilung ihres objektiven Weſens ſind beſchränkt, ebenſo wie diejenigen aller anderen Menſchen. Das Einzige, was ich für dieſelben in Anſpruch nehme, und was ich auch von meinen entſchiedenſten Gegnern verlangen muß, iſt, daß meine moniſtiſche Philoſophie von Anfang bis zu Ende ehrlich iſt, d. h. der vollſtändige Ausdruck der Ueberzeugung, welche ich durch vieljähriges eifriges Forſchen in der Natur und durch unabläſſiges Nachdenken über den wahren Grund ihrer Erſchei- nungen erworben habe. Dieſe naturphiloſophiſche Gedanken- Arbeit erſtreckt ſich jetzt über ein volles halbes Jahrhundert, und ich darf jetzt, in meinem 66. Lebensjahre, wohl annehmen, daß ſie reif im menſchlichen Sinne iſt; ich bin auch völlig gewiß, daß dieſe „reife Frucht“ vom Baume der Erkenntniß für die kurze Spanne des Daſeins, die mir noch beſchieden iſt, keine bedeutende Vervollkommnung und keine principiellen Verände- rungen erfahren wird.
Alle weſentlichen und entſcheidenden Anſchauungen meiner moniſtiſchen und genetiſchen Philoſophie habe ich ſchon vor 33 Jahren in meiner „Generellen Morphologie der Organismen“ niedergelegt, einem weitſchweifigen und ſchwer- fällig geſchriebenen Werke, welches nur ſehr wenig Leſer gefunden hat. Es war der erſte Verſuch, die neu begründete Entwickelungs-
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[V/0011]
Vorwort.
derſelben für weitere gebildete Kreiſe geben und die Frage zu
beantworten ſuchen, wie weit wir uns gegenwärtig deren Löſung
genähert haben. Welche Stufe in der Erkenntniß der
Wahrheit haben wir am Ende des neunzehnten
Jahrhunderts wirklich erreicht? Und welche Fortſchritte
nach dieſem unendlich entfernten Ziele haben wir im Laufe des-
ſelben wirklich gemacht?
Die Antwort auf dieſe großen Fragen, die ich hier gebe,
kann naturgemäß nur ſubjektiv und nur theilweiſe richtig
ſein; denn meine Kenntniſſe der wirklichen Natur und meine
Vernunft zur Beurtheilung ihres objektiven Weſens ſind beſchränkt,
ebenſo wie diejenigen aller anderen Menſchen. Das Einzige,
was ich für dieſelben in Anſpruch nehme, und was ich auch von
meinen entſchiedenſten Gegnern verlangen muß, iſt, daß meine
moniſtiſche Philoſophie von Anfang bis zu Ende ehrlich iſt,
d. h. der vollſtändige Ausdruck der Ueberzeugung, welche ich
durch vieljähriges eifriges Forſchen in der Natur und durch
unabläſſiges Nachdenken über den wahren Grund ihrer Erſchei-
nungen erworben habe. Dieſe naturphiloſophiſche Gedanken-
Arbeit erſtreckt ſich jetzt über ein volles halbes Jahrhundert, und
ich darf jetzt, in meinem 66. Lebensjahre, wohl annehmen, daß
ſie reif im menſchlichen Sinne iſt; ich bin auch völlig gewiß,
daß dieſe „reife Frucht“ vom Baume der Erkenntniß für die
kurze Spanne des Daſeins, die mir noch beſchieden iſt, keine
bedeutende Vervollkommnung und keine principiellen Verände-
rungen erfahren wird.
Alle weſentlichen und entſcheidenden Anſchauungen meiner
moniſtiſchen und genetiſchen Philoſophie habe ich ſchon vor
33 Jahren in meiner „Generellen Morphologie der
Organismen“ niedergelegt, einem weitſchweifigen und ſchwer-
fällig geſchriebenen Werke, welches nur ſehr wenig Leſer gefunden
hat. Es war der erſte Verſuch, die neu begründete Entwickelungs-
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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. V. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/11>, abgerufen am 24.11.2024.
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