achtung ist nur in sehr engen Grenzen möglich, und der weitaus größte Theil dieser historischen Vorgänge kann nur indirekt er- schlossen werden: durch kritische Reflexion, durch vergleichende Benutzung von empirischen Urkunden, welche sehr verschiedenen Gebieten angehören, der Paläontologie, Ontogenie und Morpho- logie. Dazu kam noch das gewaltige Hinderniß, welches der natürlichen Stammesgeschichte allgemein durch die enge Ver- knüpfung der "Schöpfungsgeschichte" mit übernatürlichen Mythen und religiösen Dogmen bereitet wurde; es ist daher begreiflich, daß erst im Laufe der letzten vierzig Jahre die wissenschaftliche Existenz der wahren Stammesgeschichte unter schweren Kämpfen errungen und gesichert werden mußte.
Mythische Schöpfungsgeschichte. Alle ernstlichen Versuche, welche bis zum Beginne unsers 19. Jahrhunderts zur Beant- wortung des Problems von der Entstehung der Organismen unternommen wurden, blieben in dem mythologischen Laby- rinthe der übernatürlichen Schöpfungssagen stecken. Einzelne Bemühungen hervorragender Denker, sich von diesen zu emanci- piren und zu einer natürlichen Auffassung zu gelangen, blieben erfolglos. Die mannichfaltigen Schöpfungs-Mythen entwickelten sich bei allen älteren Kultur-Völkern im Zusammenhang mit der Religion; und während des Mittelalters war es naturgemäß das zur Herrschaft gelangte Christenthum, welches die Beant- wortung der Schöpfungsfrage für sich in Anspruch nahm. Da die Bibel als die unerschütterliche Basis des christlichen Religions- Gebäudes galt, wurde die ganze Schöpfungsgeschichte dem ersten Buche Moses entnommen. Auf dieses stützte sich auch noch der große schwedische Naturforscher Carl Linne, als er 1735 in seinem grundlegenden "Systema Naturae" den ersten Ver- such zu einer systematischen Ordnung, Benennung und Klassifi- kation der unzähligen verschiedenen Naturkörper unternahm. Als bestes, praktisches Hilfsmittel derselben führte er die bekannte
Mythiſche Schöpfungsgeſchichte. V.
achtung iſt nur in ſehr engen Grenzen möglich, und der weitaus größte Theil dieſer hiſtoriſchen Vorgänge kann nur indirekt er- ſchloſſen werden: durch kritiſche Reflexion, durch vergleichende Benutzung von empiriſchen Urkunden, welche ſehr verſchiedenen Gebieten angehören, der Paläontologie, Ontogenie und Morpho- logie. Dazu kam noch das gewaltige Hinderniß, welches der natürlichen Stammesgeſchichte allgemein durch die enge Ver- knüpfung der „Schöpfungsgeſchichte“ mit übernatürlichen Mythen und religiöſen Dogmen bereitet wurde; es iſt daher begreiflich, daß erſt im Laufe der letzten vierzig Jahre die wiſſenſchaftliche Exiſtenz der wahren Stammesgeſchichte unter ſchweren Kämpfen errungen und geſichert werden mußte.
Mythiſche Schöpfungsgeſchichte. Alle ernſtlichen Verſuche, welche bis zum Beginne unſers 19. Jahrhunderts zur Beant- wortung des Problems von der Entſtehung der Organismen unternommen wurden, blieben in dem mythologiſchen Laby- rinthe der übernatürlichen Schöpfungsſagen ſtecken. Einzelne Bemühungen hervorragender Denker, ſich von dieſen zu emanci- piren und zu einer natürlichen Auffaſſung zu gelangen, blieben erfolglos. Die mannichfaltigen Schöpfungs-Mythen entwickelten ſich bei allen älteren Kultur-Völkern im Zuſammenhang mit der Religion; und während des Mittelalters war es naturgemäß das zur Herrſchaft gelangte Chriſtenthum, welches die Beant- wortung der Schöpfungsfrage für ſich in Anſpruch nahm. Da die Bibel als die unerſchütterliche Baſis des chriſtlichen Religions- Gebäudes galt, wurde die ganze Schöpfungsgeſchichte dem erſten Buche Moſes entnommen. Auf dieſes ſtützte ſich auch noch der große ſchwediſche Naturforſcher Carl Linné, als er 1735 in ſeinem grundlegenden „Syſtema Naturae“ den erſten Ver- ſuch zu einer ſyſtematiſchen Ordnung, Benennung und Klaſſifi- kation der unzähligen verſchiedenen Naturkörper unternahm. Als beſtes, praktiſches Hilfsmittel derſelben führte er die bekannte
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Mythiſche Schöpfungsgeſchichte. V.
achtung iſt nur in ſehr engen Grenzen möglich, und der weitaus
größte Theil dieſer hiſtoriſchen Vorgänge kann nur indirekt er-
ſchloſſen werden: durch kritiſche Reflexion, durch vergleichende
Benutzung von empiriſchen Urkunden, welche ſehr verſchiedenen
Gebieten angehören, der Paläontologie, Ontogenie und Morpho-
logie. Dazu kam noch das gewaltige Hinderniß, welches der
natürlichen Stammesgeſchichte allgemein durch die enge Ver-
knüpfung der „Schöpfungsgeſchichte“ mit übernatürlichen Mythen
und religiöſen Dogmen bereitet wurde; es iſt daher begreiflich,
daß erſt im Laufe der letzten vierzig Jahre die wiſſenſchaftliche
Exiſtenz der wahren Stammesgeſchichte unter ſchweren Kämpfen
errungen und geſichert werden mußte.
Mythiſche Schöpfungsgeſchichte. Alle ernſtlichen Verſuche,
welche bis zum Beginne unſers 19. Jahrhunderts zur Beant-
wortung des Problems von der Entſtehung der Organismen
unternommen wurden, blieben in dem mythologiſchen Laby-
rinthe der übernatürlichen Schöpfungsſagen ſtecken. Einzelne
Bemühungen hervorragender Denker, ſich von dieſen zu emanci-
piren und zu einer natürlichen Auffaſſung zu gelangen, blieben
erfolglos. Die mannichfaltigen Schöpfungs-Mythen entwickelten
ſich bei allen älteren Kultur-Völkern im Zuſammenhang mit der
Religion; und während des Mittelalters war es naturgemäß
das zur Herrſchaft gelangte Chriſtenthum, welches die Beant-
wortung der Schöpfungsfrage für ſich in Anſpruch nahm. Da
die Bibel als die unerſchütterliche Baſis des chriſtlichen Religions-
Gebäudes galt, wurde die ganze Schöpfungsgeſchichte dem erſten
Buche Moſes entnommen. Auf dieſes ſtützte ſich auch noch der
große ſchwediſche Naturforſcher Carl Linné, als er 1735
in ſeinem grundlegenden „Syſtema Naturae“ den erſten Ver-
ſuch zu einer ſyſtematiſchen Ordnung, Benennung und Klaſſifi-
kation der unzähligen verſchiedenen Naturkörper unternahm. Als
beſtes, praktiſches Hilfsmittel derſelben führte er die bekannte
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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/100>, abgerufen am 16.07.2024.
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