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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Goethe's Metamorphose der Pflanzen.

Von den Schriften Goethe's, die sich auf die organische Natur
beziehen, ist am berühmtesten die Metamorphose der Pflan-
zen
geworden, welche 1790 erschien; ein Werk, welches insofern den
Grundgedanken der Entwickelungstheorie deutlich erkennen läßt, als
Goethe darin bemüht war, ein einziges Grundorgan nachzuweisen,
durch dessen unendlich mannichfaltige Ausbildung und Umbildung man
sich den ganzen Formenreichthum der Pflanzenwelt entstanden denken
könne; dieses Grundorgan fand er im Blatt. Wenn damals schon
die Anwendung des Mikroskops eine allgemeine gewesen wäre, wenn
Goethe den Bau der Organismen mit dem Mikroskop durchforscht
hätte, so würde er noch weiter gegangen sein, und das Blatt bereits
als ein Vielfaches von individuellen Theilen niederer Ordnung, von
Zellen, erkannt haben. Er würde dann nicht das Blatt, sondern die
Zelle als das eigentliche Grundorgan aufgestellt haben, durch des-
sen Vermehrung, Umbildung und Verbindung (Synthese) zunächst
das Blatt entsteht; sowie weiterhin durch Umbildung, Variation und
Zusammensetzung der Blätter alle die mannichfaltigen Schönheiten in
Form und Farbe entstehen, welche wir ebenso an den echten Er-
nährungsblättern, wie an den Fortpflanzungsblättern oder den Blü-
thentheilen der Pflanzen bewundern. Jndessen schon dieser Grundge-
danke war durchaus richtig. Goethe zeigte darin, daß man, um
das Ganze der Erscheinung zu erfassen, erstens vergleichen und dann
zweitens einen einfachen Typus, eine einfache Grundform, ein Thema
gewissermaßen suchen müsse, von dem alle übrigen Gestalten nur die
unendlich mannichfaltigen Variationen seien.

Etwas Aehnliches, wie er hier in der Metamorphose der Pflanzen
leistete, gab er dann für die Wirbelthiere in seiner berühmten Wir-
beltheorie des Schädels. Goethe
zeigte zuerst, unabhängig
von Oken, welcher fast gleichzeitig auf denselben Gedanken kam, daß
der Schädel des Menschen und aller anderen Wirbelthiere, zunächst der
Säugethiere, Nichts weiter sei als eine Knochenkapsel, zusammenge-
setzt aus denselben Stücken, aus denen auch das Rückgrat oder die
Wirbelsäule zusammengesetzt ist, aus Wirbeln. Die Wirbel des Schä-

Goethe’s Metamorphoſe der Pflanzen.

Von den Schriften Goethe’s, die ſich auf die organiſche Natur
beziehen, iſt am beruͤhmteſten die Metamorphoſe der Pflan-
zen
geworden, welche 1790 erſchien; ein Werk, welches inſofern den
Grundgedanken der Entwickelungstheorie deutlich erkennen laͤßt, als
Goethe darin bemuͤht war, ein einziges Grundorgan nachzuweiſen,
durch deſſen unendlich mannichfaltige Ausbildung und Umbildung man
ſich den ganzen Formenreichthum der Pflanzenwelt entſtanden denken
koͤnne; dieſes Grundorgan fand er im Blatt. Wenn damals ſchon
die Anwendung des Mikroſkops eine allgemeine geweſen waͤre, wenn
Goethe den Bau der Organismen mit dem Mikroſkop durchforſcht
haͤtte, ſo wuͤrde er noch weiter gegangen ſein, und das Blatt bereits
als ein Vielfaches von individuellen Theilen niederer Ordnung, von
Zellen, erkannt haben. Er wuͤrde dann nicht das Blatt, ſondern die
Zelle als das eigentliche Grundorgan aufgeſtellt haben, durch deſ-
ſen Vermehrung, Umbildung und Verbindung (Syntheſe) zunaͤchſt
das Blatt entſteht; ſowie weiterhin durch Umbildung, Variation und
Zuſammenſetzung der Blaͤtter alle die mannichfaltigen Schoͤnheiten in
Form und Farbe entſtehen, welche wir ebenſo an den echten Er-
naͤhrungsblaͤttern, wie an den Fortpflanzungsblaͤttern oder den Bluͤ-
thentheilen der Pflanzen bewundern. Jndeſſen ſchon dieſer Grundge-
danke war durchaus richtig. Goethe zeigte darin, daß man, um
das Ganze der Erſcheinung zu erfaſſen, erſtens vergleichen und dann
zweitens einen einfachen Typus, eine einfache Grundform, ein Thema
gewiſſermaßen ſuchen muͤſſe, von dem alle uͤbrigen Geſtalten nur die
unendlich mannichfaltigen Variationen ſeien.

Etwas Aehnliches, wie er hier in der Metamorphoſe der Pflanzen
leiſtete, gab er dann fuͤr die Wirbelthiere in ſeiner beruͤhmten Wir-
beltheorie des Schaͤdels. Goethe
zeigte zuerſt, unabhaͤngig
von Oken, welcher faſt gleichzeitig auf denſelben Gedanken kam, daß
der Schaͤdel des Menſchen und aller anderen Wirbelthiere, zunaͤchſt der
Saͤugethiere, Nichts weiter ſei als eine Knochenkapſel, zuſammenge-
ſetzt aus denſelben Stuͤcken, aus denen auch das Ruͤckgrat oder die
Wirbelſaͤule zuſammengeſetzt iſt, aus Wirbeln. Die Wirbel des Schaͤ-

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[68/0089] Goethe’s Metamorphoſe der Pflanzen. Von den Schriften Goethe’s, die ſich auf die organiſche Natur beziehen, iſt am beruͤhmteſten die Metamorphoſe der Pflan- zen geworden, welche 1790 erſchien; ein Werk, welches inſofern den Grundgedanken der Entwickelungstheorie deutlich erkennen laͤßt, als Goethe darin bemuͤht war, ein einziges Grundorgan nachzuweiſen, durch deſſen unendlich mannichfaltige Ausbildung und Umbildung man ſich den ganzen Formenreichthum der Pflanzenwelt entſtanden denken koͤnne; dieſes Grundorgan fand er im Blatt. Wenn damals ſchon die Anwendung des Mikroſkops eine allgemeine geweſen waͤre, wenn Goethe den Bau der Organismen mit dem Mikroſkop durchforſcht haͤtte, ſo wuͤrde er noch weiter gegangen ſein, und das Blatt bereits als ein Vielfaches von individuellen Theilen niederer Ordnung, von Zellen, erkannt haben. Er wuͤrde dann nicht das Blatt, ſondern die Zelle als das eigentliche Grundorgan aufgeſtellt haben, durch deſ- ſen Vermehrung, Umbildung und Verbindung (Syntheſe) zunaͤchſt das Blatt entſteht; ſowie weiterhin durch Umbildung, Variation und Zuſammenſetzung der Blaͤtter alle die mannichfaltigen Schoͤnheiten in Form und Farbe entſtehen, welche wir ebenſo an den echten Er- naͤhrungsblaͤttern, wie an den Fortpflanzungsblaͤttern oder den Bluͤ- thentheilen der Pflanzen bewundern. Jndeſſen ſchon dieſer Grundge- danke war durchaus richtig. Goethe zeigte darin, daß man, um das Ganze der Erſcheinung zu erfaſſen, erſtens vergleichen und dann zweitens einen einfachen Typus, eine einfache Grundform, ein Thema gewiſſermaßen ſuchen muͤſſe, von dem alle uͤbrigen Geſtalten nur die unendlich mannichfaltigen Variationen ſeien. Etwas Aehnliches, wie er hier in der Metamorphoſe der Pflanzen leiſtete, gab er dann fuͤr die Wirbelthiere in ſeiner beruͤhmten Wir- beltheorie des Schaͤdels. Goethe zeigte zuerſt, unabhaͤngig von Oken, welcher faſt gleichzeitig auf denſelben Gedanken kam, daß der Schaͤdel des Menſchen und aller anderen Wirbelthiere, zunaͤchſt der Saͤugethiere, Nichts weiter ſei als eine Knochenkapſel, zuſammenge- ſetzt aus denſelben Stuͤcken, aus denen auch das Ruͤckgrat oder die Wirbelſaͤule zuſammengeſetzt iſt, aus Wirbeln. Die Wirbel des Schaͤ-

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/89>, abgerufen am 24.11.2024.