Begründung der Descendenztheorie durch die Selectionstheorie.
zu erklären. So lange sie dies nicht vermögen, bleibt die Abstam- mungslehre die unentbehrlichste biologische Theorie.
Auf Grund der angeführten großartigen Zeugnisse würden wir Lamarck's Descendenztheorie zur Erklärung der biologischen Phäno- mene selbst dann annehmen müssen, wenn wir nicht Darwin's Se- lectionstheorie besäßen. Nun kommt aber dazu, daß, wie ich Jhnen früher zeigte, die erstere durch die letztere so vollständig direct be- wiesen und durch mechanische Ursachen begründet wird, wie wir es nur verlangen können. Die Gesetze der Vererbung und der An- passung sind allgemein anerkannte physiologische Thatsachen, jene auf die Fortpflanzung, diese auf die Ernährung der Or- ganismen zurückführbar. Andrerseits ist der Kampf um's Dasein eine biologische Thatsache, welche mit mathematischer Nothwendigkeit aus dem allgemeinen Mißverhältniß zwischen der Durchschnittszahl der organischen Jndividuen und der Ueberzahl ihrer Keime folgt. Jndem aber Anpassung und Vererbung im Kampf um's Dasein sich in bestän- diger Wechselwirkung befinden, folgt daraus mit unvermeidlicher Noth- wendigkeit die natürliche Züchtung, welche überall und bestän- dig umbildend auf die organischen Arten einwirkt, und neue Arten durch Divergenz des Charakters erzeugt. Wenn wir diese Umstände recht in Erwägung ziehen, so erscheint uns die beständige und allmähliche Umbildung oder Transmutation der organischen Spe- cies als ein biologischer Proceß, welcher nothwendig aus der eigenen Natur der Organismen und ihren gegenseitigen Wechselbeziehungen folgen muß.
Daß auch der Ursprung des Menschen aus diesem allge- meinen organischen Umbildungsvorgang erklärt werden muß, und daß er sich aus diesem ebenso einfach als natürlich erklärt, glaube ich Jh- nen in dem letzten Vortrage hinreichend bewiesen zu haben. Jch kann aber hier nicht umhin, Sie hier nochmals auf den unzertrennlichen Zu- sammenhang dieser sogenannten "Affenlehre" oder "Pithekoidentheorie" mit der gesammten Descendenztheorie hinzuweisen. Wenn die letztere das größte Jnductionsgesetz der Biologie ist, so folgt daraus die
Begruͤndung der Deſcendenztheorie durch die Selectionstheorie.
zu erklaͤren. So lange ſie dies nicht vermoͤgen, bleibt die Abſtam- mungslehre die unentbehrlichſte biologiſche Theorie.
Auf Grund der angefuͤhrten großartigen Zeugniſſe wuͤrden wir Lamarck’s Deſcendenztheorie zur Erklaͤrung der biologiſchen Phaͤno- mene ſelbſt dann annehmen muͤſſen, wenn wir nicht Darwin’s Se- lectionstheorie beſaͤßen. Nun kommt aber dazu, daß, wie ich Jhnen fruͤher zeigte, die erſtere durch die letztere ſo vollſtaͤndig direct be- wieſen und durch mechaniſche Urſachen begruͤndet wird, wie wir es nur verlangen koͤnnen. Die Geſetze der Vererbung und der An- paſſung ſind allgemein anerkannte phyſiologiſche Thatſachen, jene auf die Fortpflanzung, dieſe auf die Ernaͤhrung der Or- ganismen zuruͤckfuͤhrbar. Andrerſeits iſt der Kampf um’s Daſein eine biologiſche Thatſache, welche mit mathematiſcher Nothwendigkeit aus dem allgemeinen Mißverhaͤltniß zwiſchen der Durchſchnittszahl der organiſchen Jndividuen und der Ueberzahl ihrer Keime folgt. Jndem aber Anpaſſung und Vererbung im Kampf um’s Daſein ſich in beſtaͤn- diger Wechſelwirkung befinden, folgt daraus mit unvermeidlicher Noth- wendigkeit die natuͤrliche Zuͤchtung, welche uͤberall und beſtaͤn- dig umbildend auf die organiſchen Arten einwirkt, und neue Arten durch Divergenz des Charakters erzeugt. Wenn wir dieſe Umſtaͤnde recht in Erwaͤgung ziehen, ſo erſcheint uns die beſtaͤndige und allmaͤhliche Umbildung oder Transmutation der organiſchen Spe- cies als ein biologiſcher Proceß, welcher nothwendig aus der eigenen Natur der Organismen und ihren gegenſeitigen Wechſelbeziehungen folgen muß.
Daß auch der Urſprung des Menſchen aus dieſem allge- meinen organiſchen Umbildungsvorgang erklaͤrt werden muß, und daß er ſich aus dieſem ebenſo einfach als natuͤrlich erklaͤrt, glaube ich Jh- nen in dem letzten Vortrage hinreichend bewieſen zu haben. Jch kann aber hier nicht umhin, Sie hier nochmals auf den unzertrennlichen Zu- ſammenhang dieſer ſogenannten „Affenlehre“ oder „Pithekoidentheorie“ mit der geſammten Deſcendenztheorie hinzuweiſen. Wenn die letztere das groͤßte Jnductionsgeſetz der Biologie iſt, ſo folgt daraus die
<TEI><text><body><divn="1"><list><item><pbfacs="#f0565"n="540"/><fwplace="top"type="header">Begruͤndung der Deſcendenztheorie durch die Selectionstheorie.</fw><lb/>
zu erklaͤren. So lange ſie dies nicht vermoͤgen, bleibt die <hirendition="#g">Abſtam-<lb/>
mungslehre die unentbehrlichſte biologiſche Theorie.</hi></item></list><lb/><p>Auf Grund der angefuͤhrten großartigen Zeugniſſe wuͤrden wir<lb/><hirendition="#g">Lamarck’s</hi> Deſcendenztheorie zur Erklaͤrung der biologiſchen Phaͤno-<lb/>
mene ſelbſt dann annehmen muͤſſen, wenn wir nicht <hirendition="#g">Darwin’s</hi> Se-<lb/>
lectionstheorie beſaͤßen. Nun kommt aber dazu, daß, wie ich Jhnen<lb/>
fruͤher zeigte, die erſtere durch die letztere ſo vollſtaͤndig <hirendition="#g">direct be-<lb/>
wieſen</hi> und durch mechaniſche Urſachen begruͤndet wird, wie wir es<lb/>
nur verlangen koͤnnen. Die Geſetze der <hirendition="#g">Vererbung</hi> und der <hirendition="#g">An-<lb/>
paſſung</hi>ſind allgemein anerkannte <hirendition="#g">phyſiologiſche</hi> Thatſachen,<lb/>
jene auf die <hirendition="#g">Fortpflanzung,</hi> dieſe auf die <hirendition="#g">Ernaͤhrung</hi> der Or-<lb/>
ganismen zuruͤckfuͤhrbar. Andrerſeits iſt der <hirendition="#g">Kampf um’s Daſein</hi><lb/>
eine biologiſche Thatſache, welche mit mathematiſcher Nothwendigkeit<lb/>
aus dem allgemeinen Mißverhaͤltniß zwiſchen der Durchſchnittszahl der<lb/>
organiſchen Jndividuen und der Ueberzahl ihrer Keime folgt. Jndem<lb/>
aber Anpaſſung und Vererbung im Kampf um’s Daſein ſich in beſtaͤn-<lb/>
diger Wechſelwirkung befinden, folgt daraus mit unvermeidlicher Noth-<lb/>
wendigkeit die <hirendition="#g">natuͤrliche Zuͤchtung,</hi> welche uͤberall und beſtaͤn-<lb/>
dig umbildend auf die organiſchen Arten einwirkt, und neue Arten<lb/>
durch <hirendition="#g">Divergenz des Charakters</hi> erzeugt. Wenn wir dieſe<lb/>
Umſtaͤnde recht in Erwaͤgung ziehen, ſo erſcheint uns die beſtaͤndige<lb/>
und allmaͤhliche Umbildung oder Transmutation der organiſchen Spe-<lb/>
cies als ein biologiſcher Proceß, welcher nothwendig aus der eigenen<lb/>
Natur der Organismen und ihren gegenſeitigen Wechſelbeziehungen<lb/>
folgen muß.</p><lb/><p>Daß auch der <hirendition="#g">Urſprung des Menſchen</hi> aus dieſem allge-<lb/>
meinen organiſchen Umbildungsvorgang erklaͤrt werden muß, und daß<lb/>
er ſich aus dieſem ebenſo einfach als natuͤrlich erklaͤrt, glaube ich Jh-<lb/>
nen in dem letzten Vortrage hinreichend bewieſen zu haben. Jch kann<lb/>
aber hier nicht umhin, Sie hier nochmals auf den unzertrennlichen Zu-<lb/>ſammenhang dieſer ſogenannten „Affenlehre“ oder „Pithekoidentheorie“<lb/>
mit der geſammten Deſcendenztheorie hinzuweiſen. Wenn die letztere<lb/>
das groͤßte <hirendition="#g">Jnductionsgeſetz</hi> der Biologie iſt, ſo folgt daraus die<lb/></p></div></body></text></TEI>
[540/0565]
Begruͤndung der Deſcendenztheorie durch die Selectionstheorie.
zu erklaͤren. So lange ſie dies nicht vermoͤgen, bleibt die Abſtam-
mungslehre die unentbehrlichſte biologiſche Theorie.
Auf Grund der angefuͤhrten großartigen Zeugniſſe wuͤrden wir
Lamarck’s Deſcendenztheorie zur Erklaͤrung der biologiſchen Phaͤno-
mene ſelbſt dann annehmen muͤſſen, wenn wir nicht Darwin’s Se-
lectionstheorie beſaͤßen. Nun kommt aber dazu, daß, wie ich Jhnen
fruͤher zeigte, die erſtere durch die letztere ſo vollſtaͤndig direct be-
wieſen und durch mechaniſche Urſachen begruͤndet wird, wie wir es
nur verlangen koͤnnen. Die Geſetze der Vererbung und der An-
paſſung ſind allgemein anerkannte phyſiologiſche Thatſachen,
jene auf die Fortpflanzung, dieſe auf die Ernaͤhrung der Or-
ganismen zuruͤckfuͤhrbar. Andrerſeits iſt der Kampf um’s Daſein
eine biologiſche Thatſache, welche mit mathematiſcher Nothwendigkeit
aus dem allgemeinen Mißverhaͤltniß zwiſchen der Durchſchnittszahl der
organiſchen Jndividuen und der Ueberzahl ihrer Keime folgt. Jndem
aber Anpaſſung und Vererbung im Kampf um’s Daſein ſich in beſtaͤn-
diger Wechſelwirkung befinden, folgt daraus mit unvermeidlicher Noth-
wendigkeit die natuͤrliche Zuͤchtung, welche uͤberall und beſtaͤn-
dig umbildend auf die organiſchen Arten einwirkt, und neue Arten
durch Divergenz des Charakters erzeugt. Wenn wir dieſe
Umſtaͤnde recht in Erwaͤgung ziehen, ſo erſcheint uns die beſtaͤndige
und allmaͤhliche Umbildung oder Transmutation der organiſchen Spe-
cies als ein biologiſcher Proceß, welcher nothwendig aus der eigenen
Natur der Organismen und ihren gegenſeitigen Wechſelbeziehungen
folgen muß.
Daß auch der Urſprung des Menſchen aus dieſem allge-
meinen organiſchen Umbildungsvorgang erklaͤrt werden muß, und daß
er ſich aus dieſem ebenſo einfach als natuͤrlich erklaͤrt, glaube ich Jh-
nen in dem letzten Vortrage hinreichend bewieſen zu haben. Jch kann
aber hier nicht umhin, Sie hier nochmals auf den unzertrennlichen Zu-
ſammenhang dieſer ſogenannten „Affenlehre“ oder „Pithekoidentheorie“
mit der geſammten Deſcendenztheorie hinzuweiſen. Wenn die letztere
das groͤßte Jnductionsgeſetz der Biologie iſt, ſo folgt daraus die
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 540. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/565>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.