stellten Thatsachen sind immer nur die rohen Bausteine, und ohne die denkende Verwerthung, ohne die philosophische Verknüpfung derselben kann keine Wissenschaft entstehen. Wie ich Jhnen schon früher ein- dringlich vorzustellen versuchte, entsteht nur durch die innigste Wechselwirkung und gegenseitige Durchdringung von Philosophie und Empirie das unerschütterliche Ge- bäude der wahren, monistischen Wissenschaft, oder was dasselbe ist, der Naturwissenschaft.
Aus dieser beklagenswerthen Entfremdung der Naturforschung von der Philosophie, und aus dem rohen Empirismus, der heutzu- tage leider von den meisten Naturforschern als "exacte Wissenschaft" gepriesen wird, entspringen jene seltsamen Quersprünge des Verstan- des, jene groben Verstöße gegen die elementare Logik, jenes Unver- mögen zu den einfachsten Schlußfolgerungen, denen Sie heutzutage auf allen Wegen der Naturwissenschaft, ganz besonders aber in der Zoologie und Botanik begegnen können. Hier rächt sich Vernachlässi- gung der philosophischen Bildung und Schulung des Geistes unmit- telbar auf das Empfindlichste. Es ist daher nicht zu verwundern, wenn jenen rohen Empirikern auch die tiefe innere Wahrheit der Descendenztheorie gänzlich verschlossen bleibt. Wie das triviale Sprich- wort sehr treffend sagt, "sehen sie den Wald vor lauter Bäumen nicht." Nur durch allgemeinere philosophische Studien und namentlich durch strengere logische Schulung des Geistes kann diesem schlimmen Uebel- stande auf die Dauer abgeholfen werden (vergl. Gen. Morph. I. 63; II, 447).
Wenn Sie dieses Verhältniß recht erwägen, und mit Bezug auf die empirische Begründung der philosophischen Entwickelungstheorie weiter darüber nachdenken, so wird es Jhnen auch alsbald klar wer- den, wie es sich mit den vielfach geforderten Beweisen für die Descendenztheorie" verhält. Je mehr sich die Abstammungs- lehre in den letzten Jahren allgemein Bahn gebrochen hat, je mehr sich alle wirklich denkenden jüngeren Naturforscher und alle wirklich biolo- gisch gebildeten Philosophen von ihrer inneren Wahrheit und Unent-
Wechſelwirkung zwiſchen Empirie und Philoſophie.
ſtellten Thatſachen ſind immer nur die rohen Bauſteine, und ohne die denkende Verwerthung, ohne die philoſophiſche Verknuͤpfung derſelben kann keine Wiſſenſchaft entſtehen. Wie ich Jhnen ſchon fruͤher ein- dringlich vorzuſtellen verſuchte, entſteht nur durch die innigſte Wechſelwirkung und gegenſeitige Durchdringung von Philoſophie und Empirie das unerſchuͤtterliche Ge- baͤude der wahren, moniſtiſchen Wiſſenſchaft, oder was daſſelbe iſt, der Naturwiſſenſchaft.
Aus dieſer beklagenswerthen Entfremdung der Naturforſchung von der Philoſophie, und aus dem rohen Empirismus, der heutzu- tage leider von den meiſten Naturforſchern als „exacte Wiſſenſchaft“ geprieſen wird, entſpringen jene ſeltſamen Querſpruͤnge des Verſtan- des, jene groben Verſtoͤße gegen die elementare Logik, jenes Unver- moͤgen zu den einfachſten Schlußfolgerungen, denen Sie heutzutage auf allen Wegen der Naturwiſſenſchaft, ganz beſonders aber in der Zoologie und Botanik begegnen koͤnnen. Hier raͤcht ſich Vernachlaͤſſi- gung der philoſophiſchen Bildung und Schulung des Geiſtes unmit- telbar auf das Empfindlichſte. Es iſt daher nicht zu verwundern, wenn jenen rohen Empirikern auch die tiefe innere Wahrheit der Deſcendenztheorie gaͤnzlich verſchloſſen bleibt. Wie das triviale Sprich- wort ſehr treffend ſagt, „ſehen ſie den Wald vor lauter Baͤumen nicht.“ Nur durch allgemeinere philoſophiſche Studien und namentlich durch ſtrengere logiſche Schulung des Geiſtes kann dieſem ſchlimmen Uebel- ſtande auf die Dauer abgeholfen werden (vergl. Gen. Morph. I. 63; II, 447).
Wenn Sie dieſes Verhaͤltniß recht erwaͤgen, und mit Bezug auf die empiriſche Begruͤndung der philoſophiſchen Entwickelungstheorie weiter daruͤber nachdenken, ſo wird es Jhnen auch alsbald klar wer- den, wie es ſich mit den vielfach geforderten Beweiſen fuͤr die Deſcendenztheorie“ verhaͤlt. Je mehr ſich die Abſtammungs- lehre in den letzten Jahren allgemein Bahn gebrochen hat, je mehr ſich alle wirklich denkenden juͤngeren Naturforſcher und alle wirklich biolo- giſch gebildeten Philoſophen von ihrer inneren Wahrheit und Unent-
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Wechſelwirkung zwiſchen Empirie und Philoſophie.
ſtellten Thatſachen ſind immer nur die rohen Bauſteine, und ohne die
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kann keine Wiſſenſchaft entſtehen. Wie ich Jhnen ſchon fruͤher ein-
dringlich vorzuſtellen verſuchte, entſteht nur durch die innigſte
Wechſelwirkung und gegenſeitige Durchdringung von
Philoſophie und Empirie das unerſchuͤtterliche Ge-
baͤude der wahren, moniſtiſchen Wiſſenſchaft, oder was
daſſelbe iſt, der Naturwiſſenſchaft.
Aus dieſer beklagenswerthen Entfremdung der Naturforſchung
von der Philoſophie, und aus dem rohen Empirismus, der heutzu-
tage leider von den meiſten Naturforſchern als „exacte Wiſſenſchaft“
geprieſen wird, entſpringen jene ſeltſamen Querſpruͤnge des Verſtan-
des, jene groben Verſtoͤße gegen die elementare Logik, jenes Unver-
moͤgen zu den einfachſten Schlußfolgerungen, denen Sie heutzutage
auf allen Wegen der Naturwiſſenſchaft, ganz beſonders aber in der
Zoologie und Botanik begegnen koͤnnen. Hier raͤcht ſich Vernachlaͤſſi-
gung der philoſophiſchen Bildung und Schulung des Geiſtes unmit-
telbar auf das Empfindlichſte. Es iſt daher nicht zu verwundern,
wenn jenen rohen Empirikern auch die tiefe innere Wahrheit der
Deſcendenztheorie gaͤnzlich verſchloſſen bleibt. Wie das triviale Sprich-
wort ſehr treffend ſagt, „ſehen ſie den Wald vor lauter Baͤumen nicht.“
Nur durch allgemeinere philoſophiſche Studien und namentlich durch
ſtrengere logiſche Schulung des Geiſtes kann dieſem ſchlimmen Uebel-
ſtande auf die Dauer abgeholfen werden (vergl. Gen. Morph. I. 63;
II, 447).
Wenn Sie dieſes Verhaͤltniß recht erwaͤgen, und mit Bezug auf
die empiriſche Begruͤndung der philoſophiſchen Entwickelungstheorie
weiter daruͤber nachdenken, ſo wird es Jhnen auch alsbald klar wer-
den, wie es ſich mit den vielfach geforderten Beweiſen fuͤr die
Deſcendenztheorie“ verhaͤlt. Je mehr ſich die Abſtammungs-
lehre in den letzten Jahren allgemein Bahn gebrochen hat, je mehr ſich
alle wirklich denkenden juͤngeren Naturforſcher und alle wirklich biolo-
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 535. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/560>, abgerufen am 22.11.2024.
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