Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.Wechselwirkung zwischen Empirie und Philosophie. natürliche System der Thiere und Pflanzen construiren zu können.Andrerseits giebt es Anatomen und Histologen, welche das eigentliche Verständniß des Thier- und Pflanzenkörpers bloß durch die genaueste Erforschung des inneren Körperbaues einer einzelnen Species, ohne die vergleichende Betrachtung der gesammten Körperform bei allen verwandten Organismen, gewinnen zu können meinen. Und doch steht auch hier, wie überall, Jnneres und Aeußeres, Vererbung und Anpassung in der engsten Wechselbeziehung, und das Einzelne kann nie ohne Vergleichung mit dem zugehörigen Ganzen wirklich verstanden werden. Jenen einseitigen Facharbeitern möchten wir daher mit Goethe zurufen: "Müsset im Naturbetrachten "Jmmer Eins wie Alles achten. "Nichts ist drinnen, Nichts ist draußen, "Denn was innen, das ist außen." und weiterhin: "Natur hat weder Kern noch Schale "Alles ist sie mit einem Male." Noch viel nachtheiliger aber, als jene einseitige Richtung ist für Wechſelwirkung zwiſchen Empirie und Philoſophie. natuͤrliche Syſtem der Thiere und Pflanzen conſtruiren zu koͤnnen.Andrerſeits giebt es Anatomen und Hiſtologen, welche das eigentliche Verſtaͤndniß des Thier- und Pflanzenkoͤrpers bloß durch die genaueſte Erforſchung des inneren Koͤrperbaues einer einzelnen Species, ohne die vergleichende Betrachtung der geſammten Koͤrperform bei allen verwandten Organismen, gewinnen zu koͤnnen meinen. Und doch ſteht auch hier, wie uͤberall, Jnneres und Aeußeres, Vererbung und Anpaſſung in der engſten Wechſelbeziehung, und das Einzelne kann nie ohne Vergleichung mit dem zugehoͤrigen Ganzen wirklich verſtanden werden. Jenen einſeitigen Facharbeitern moͤchten wir daher mit Goethe zurufen: „Muͤſſet im Naturbetrachten „Jmmer Eins wie Alles achten. „Nichts iſt drinnen, Nichts iſt draußen, „Denn was innen, das iſt außen.“ und weiterhin: „Natur hat weder Kern noch Schale „Alles iſt ſie mit einem Male.“ Noch viel nachtheiliger aber, als jene einſeitige Richtung iſt fuͤr <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0559" n="534"/><fw place="top" type="header">Wechſelwirkung zwiſchen Empirie und Philoſophie.</fw><lb/> natuͤrliche Syſtem der Thiere und Pflanzen conſtruiren zu koͤnnen.<lb/> Andrerſeits giebt es Anatomen und Hiſtologen, welche das eigentliche<lb/> Verſtaͤndniß des Thier- und Pflanzenkoͤrpers bloß durch die genaueſte<lb/> Erforſchung des inneren Koͤrperbaues einer einzelnen Species, ohne<lb/> die vergleichende Betrachtung der geſammten Koͤrperform bei allen<lb/> verwandten Organismen, gewinnen zu koͤnnen meinen. Und doch<lb/> ſteht auch hier, wie uͤberall, Jnneres und Aeußeres, Vererbung und<lb/> Anpaſſung in der engſten Wechſelbeziehung, und das Einzelne kann<lb/> nie ohne Vergleichung mit dem zugehoͤrigen Ganzen wirklich verſtanden<lb/> werden. Jenen einſeitigen Facharbeitern moͤchten wir daher mit<lb/><hi rendition="#g">Goethe</hi> zurufen:</p><lb/> <lg type="poem"> <l>„Muͤſſet im Naturbetrachten</l><lb/> <l>„Jmmer Eins wie Alles achten.</l><lb/> <l>„Nichts iſt drinnen, Nichts iſt draußen,</l><lb/> <l>„Denn was innen, das iſt außen.“</l> </lg><lb/> <p>und weiterhin:</p><lb/> <lg type="poem"> <l>„Natur hat weder Kern noch Schale</l><lb/> <l>„Alles iſt ſie mit einem Male.“</l> </lg><lb/> <p>Noch viel nachtheiliger aber, als jene einſeitige Richtung iſt fuͤr<lb/> das allgemeine Verſtaͤndniß des Naturganzen der allgemeine <hi rendition="#g">Man-<lb/> gel philoſophiſcher Bildung,</hi> durch welchen ſich die meiſten<lb/> Naturforſcher der Gegenwart auszeichnen. Die vielfachen Verirrun-<lb/> gen der fruͤheren ſpeculativen Naturphiloſophie, aus dem erſten Drittel<lb/> unſeres Jahrhunderts, haben bei den exacten empiriſchen Naturfor-<lb/> ſchern die ganze Philoſophie in einen ſolchen Mißcredit gebracht, daß<lb/> dieſelben in dem komiſchen Jrrwahne leben, das Gebaͤude der Natur-<lb/> wiſſenſchaft aus bloßen Thatſachen, ohne philoſophiſche Verknuͤpfung<lb/> derſelben, aus bloßen Kenntniſſen, ohne Verſtaͤndniß derſelben, auf-<lb/> bauen zu koͤnnen. Waͤhrend aber ein rein ſpeculatives, abſolut phi-<lb/> loſophiſches Lehrgebaͤude, welches ſich nicht um die unerlaͤßliche Grund-<lb/> lage der empiriſchen Thatſachen kuͤmmert, ein Luftſchloß wird, das<lb/> die erſte beſte Erfahrung uͤber den Haufen wirft, ſo bleibt andrerſeits<lb/> ein rein empiriſches, abſolut aus Thatſachen zuſammengeſetztes Lehr-<lb/> gebaͤude ein wuͤſter Steinhaufen, der nimmermehr den Namen eines<lb/> Gebaͤudes verdienen wird. Die nackten, durch die Erfahrung feſtge-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [534/0559]
Wechſelwirkung zwiſchen Empirie und Philoſophie.
natuͤrliche Syſtem der Thiere und Pflanzen conſtruiren zu koͤnnen.
Andrerſeits giebt es Anatomen und Hiſtologen, welche das eigentliche
Verſtaͤndniß des Thier- und Pflanzenkoͤrpers bloß durch die genaueſte
Erforſchung des inneren Koͤrperbaues einer einzelnen Species, ohne
die vergleichende Betrachtung der geſammten Koͤrperform bei allen
verwandten Organismen, gewinnen zu koͤnnen meinen. Und doch
ſteht auch hier, wie uͤberall, Jnneres und Aeußeres, Vererbung und
Anpaſſung in der engſten Wechſelbeziehung, und das Einzelne kann
nie ohne Vergleichung mit dem zugehoͤrigen Ganzen wirklich verſtanden
werden. Jenen einſeitigen Facharbeitern moͤchten wir daher mit
Goethe zurufen:
„Muͤſſet im Naturbetrachten
„Jmmer Eins wie Alles achten.
„Nichts iſt drinnen, Nichts iſt draußen,
„Denn was innen, das iſt außen.“
und weiterhin:
„Natur hat weder Kern noch Schale
„Alles iſt ſie mit einem Male.“
Noch viel nachtheiliger aber, als jene einſeitige Richtung iſt fuͤr
das allgemeine Verſtaͤndniß des Naturganzen der allgemeine Man-
gel philoſophiſcher Bildung, durch welchen ſich die meiſten
Naturforſcher der Gegenwart auszeichnen. Die vielfachen Verirrun-
gen der fruͤheren ſpeculativen Naturphiloſophie, aus dem erſten Drittel
unſeres Jahrhunderts, haben bei den exacten empiriſchen Naturfor-
ſchern die ganze Philoſophie in einen ſolchen Mißcredit gebracht, daß
dieſelben in dem komiſchen Jrrwahne leben, das Gebaͤude der Natur-
wiſſenſchaft aus bloßen Thatſachen, ohne philoſophiſche Verknuͤpfung
derſelben, aus bloßen Kenntniſſen, ohne Verſtaͤndniß derſelben, auf-
bauen zu koͤnnen. Waͤhrend aber ein rein ſpeculatives, abſolut phi-
loſophiſches Lehrgebaͤude, welches ſich nicht um die unerlaͤßliche Grund-
lage der empiriſchen Thatſachen kuͤmmert, ein Luftſchloß wird, das
die erſte beſte Erfahrung uͤber den Haufen wirft, ſo bleibt andrerſeits
ein rein empiriſches, abſolut aus Thatſachen zuſammengeſetztes Lehr-
gebaͤude ein wuͤſter Steinhaufen, der nimmermehr den Namen eines
Gebaͤudes verdienen wird. Die nackten, durch die Erfahrung feſtge-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |