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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Entstehnng der Jnstinkte durch Vererbung von Anpassungen.
sentlich als Gewohnheiten der Seele auffassen, welche
durch Anpassung erworben und durch Vererbung auf
viele Generationen übertragen und befestigt werden.

Die Jnstinkte verhalten sich demgemäß ganz wie andere Gewohnheiten,
welche nach den Gesetzen der gehäuften Anpassung (S. 186) und der
befestigten Vererbung (S. 170) zur Entstehung neuer Functionen und
somit auch neuer Formen ihrer Organe führen. Hier wie überall geht
die Wechselwirkung zwischen Function und Organ Hand in Hand.
Ebenso wie die Geistesfähigkeiten des Menschen stufenweise durch fort-
schreitende Anpassung des Gehirns erworben und durch dauernde Ver-
erbung befestigt wurden, so sind auch die Jnstinkte der Thiere, welche
nur quantitativ, nicht qualitativ von jenen verschieden sind, durch
stufenweise Vervollkommnung ihres Seelenorgans, des Centralnerven-
systems, durch Wechselwirkung der Anpassung und Vererbung, ent-
standen. Die Jnstinkte werden bekanntermaßen vererbt; allein auch
die Erfahrungen, also neue Anpassungen der Thierseele, werden ver-
erbt; und die Abrichtung der Hausthiere zu verschiedenen Seelen-
thätigkeiten, welche die wilden Thiere nicht im Stande sind aus-
zuführen, beruht auf der Möglichkeit der Seelenanpassung. Wir ken-
nen jetzt schon eine Reihe von Beispielen, in denen solche Anpassungen,
nachdem sie erblich durch eine Reihe von Generationen sich übertragen
hatten, schließlich als angeborene Jnstinkte erschienen, und doch waren
sie von den Voreltern der Thiere erst erworben. Hier ist die Dressur durch
Vererbung in Jnstinkt übergegangen. Die charakteristischen Jnstinkte
der Jagdhunde, Schäferhunde und anderer Hausthiere, welche sie
mit auf die Welt bringen, sind ebenso wie die Naturinstinkte der wil-
den Thiere, von ihren Voreltern erst durch Anpassung erworben wor-
den. Sie sind in dieser Beziehung den angeblichen "Erkenntnissen a
priori"
des Menschen zu vergleichen, die ursprünglich von unseren
uralten Vorfahren (gleich allen anderen Erkenntnissen) "a posteriori,"
durch sinnliche Erfahrung, erworben wurden. Wie ich schon früher
bemerkte, sind offenbar die "Erkenntnisse a priori" erst durch lange

Entſtehnng der Jnſtinkte durch Vererbung von Anpaſſungen.
ſentlich als Gewohnheiten der Seele auffaſſen, welche
durch Anpaſſung erworben und durch Vererbung auf
viele Generationen uͤbertragen und befeſtigt werden.

Die Jnſtinkte verhalten ſich demgemaͤß ganz wie andere Gewohnheiten,
welche nach den Geſetzen der gehaͤuften Anpaſſung (S. 186) und der
befeſtigten Vererbung (S. 170) zur Entſtehung neuer Functionen und
ſomit auch neuer Formen ihrer Organe fuͤhren. Hier wie uͤberall geht
die Wechſelwirkung zwiſchen Function und Organ Hand in Hand.
Ebenſo wie die Geiſtesfaͤhigkeiten des Menſchen ſtufenweiſe durch fort-
ſchreitende Anpaſſung des Gehirns erworben und durch dauernde Ver-
erbung befeſtigt wurden, ſo ſind auch die Jnſtinkte der Thiere, welche
nur quantitativ, nicht qualitativ von jenen verſchieden ſind, durch
ſtufenweiſe Vervollkommnung ihres Seelenorgans, des Centralnerven-
ſyſtems, durch Wechſelwirkung der Anpaſſung und Vererbung, ent-
ſtanden. Die Jnſtinkte werden bekanntermaßen vererbt; allein auch
die Erfahrungen, alſo neue Anpaſſungen der Thierſeele, werden ver-
erbt; und die Abrichtung der Hausthiere zu verſchiedenen Seelen-
thaͤtigkeiten, welche die wilden Thiere nicht im Stande ſind aus-
zufuͤhren, beruht auf der Moͤglichkeit der Seelenanpaſſung. Wir ken-
nen jetzt ſchon eine Reihe von Beiſpielen, in denen ſolche Anpaſſungen,
nachdem ſie erblich durch eine Reihe von Generationen ſich uͤbertragen
hatten, ſchließlich als angeborene Jnſtinkte erſchienen, und doch waren
ſie von den Voreltern der Thiere erſt erworben. Hier iſt die Dreſſur durch
Vererbung in Jnſtinkt uͤbergegangen. Die charakteriſtiſchen Jnſtinkte
der Jagdhunde, Schaͤferhunde und anderer Hausthiere, welche ſie
mit auf die Welt bringen, ſind ebenſo wie die Naturinſtinkte der wil-
den Thiere, von ihren Voreltern erſt durch Anpaſſung erworben wor-
den. Sie ſind in dieſer Beziehung den angeblichen „Erkenntniſſen a
priori“
des Menſchen zu vergleichen, die urſpruͤnglich von unſeren
uralten Vorfahren (gleich allen anderen Erkenntniſſen) „a posteriori,“
durch ſinnliche Erfahrung, erworben wurden. Wie ich ſchon fruͤher
bemerkte, ſind offenbar die „Erkenntniſſe a priori“ erſt durch lange

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[530/0555] Entſtehnng der Jnſtinkte durch Vererbung von Anpaſſungen. ſentlich als Gewohnheiten der Seele auffaſſen, welche durch Anpaſſung erworben und durch Vererbung auf viele Generationen uͤbertragen und befeſtigt werden. Die Jnſtinkte verhalten ſich demgemaͤß ganz wie andere Gewohnheiten, welche nach den Geſetzen der gehaͤuften Anpaſſung (S. 186) und der befeſtigten Vererbung (S. 170) zur Entſtehung neuer Functionen und ſomit auch neuer Formen ihrer Organe fuͤhren. Hier wie uͤberall geht die Wechſelwirkung zwiſchen Function und Organ Hand in Hand. Ebenſo wie die Geiſtesfaͤhigkeiten des Menſchen ſtufenweiſe durch fort- ſchreitende Anpaſſung des Gehirns erworben und durch dauernde Ver- erbung befeſtigt wurden, ſo ſind auch die Jnſtinkte der Thiere, welche nur quantitativ, nicht qualitativ von jenen verſchieden ſind, durch ſtufenweiſe Vervollkommnung ihres Seelenorgans, des Centralnerven- ſyſtems, durch Wechſelwirkung der Anpaſſung und Vererbung, ent- ſtanden. Die Jnſtinkte werden bekanntermaßen vererbt; allein auch die Erfahrungen, alſo neue Anpaſſungen der Thierſeele, werden ver- erbt; und die Abrichtung der Hausthiere zu verſchiedenen Seelen- thaͤtigkeiten, welche die wilden Thiere nicht im Stande ſind aus- zufuͤhren, beruht auf der Moͤglichkeit der Seelenanpaſſung. Wir ken- nen jetzt ſchon eine Reihe von Beiſpielen, in denen ſolche Anpaſſungen, nachdem ſie erblich durch eine Reihe von Generationen ſich uͤbertragen hatten, ſchließlich als angeborene Jnſtinkte erſchienen, und doch waren ſie von den Voreltern der Thiere erſt erworben. Hier iſt die Dreſſur durch Vererbung in Jnſtinkt uͤbergegangen. Die charakteriſtiſchen Jnſtinkte der Jagdhunde, Schaͤferhunde und anderer Hausthiere, welche ſie mit auf die Welt bringen, ſind ebenſo wie die Naturinſtinkte der wil- den Thiere, von ihren Voreltern erſt durch Anpaſſung erworben wor- den. Sie ſind in dieſer Beziehung den angeblichen „Erkenntniſſen a priori“ des Menſchen zu vergleichen, die urſpruͤnglich von unſeren uralten Vorfahren (gleich allen anderen Erkenntniſſen) „a posteriori,“ durch ſinnliche Erfahrung, erworben wurden. Wie ich ſchon fruͤher bemerkte, ſind offenbar die „Erkenntniſſe a priori“ erſt durch lange

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 530. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/555>, abgerufen am 22.11.2024.