Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

Uebergangsformen zwischen den organischen Arten.
lativität alles Zeitmaaßes auf das Unmittelbarste vor Augen. Ganz
gewiß müssen, wenn die Entwickelungslehre überhaupt wahr ist, unge-
heuere, uns gar nicht vorstellbare Zeiträume verflossen sein, während die
stufenweise historische Entwickelung des Thier- und Pflanzenreichs durch
allmähliche Umbildung der Arten vor sich ging. Es liegt aber auch
nicht ein einziger Grund vor, irgend eine bestimmte Grenze für die
Länge jener phyletischen Entwickelungsperioden anzunehmen.

Ein zweiter Haupteinwand, der von vielen, namentlich systema-
tischen Zoologen und Botanikern, gegen die Abstammungslehre erhoben
wird, ist der, daß man keine Uebergangsformen zwischen den
verschiedenen Arten finden könne, während man diese doch nach der
Abstammungslehre in Menge finden müßte. Dieser Einwurf ist zum
Theil begründet, zum Theil aber auch nicht. Denn es existiren Ueber-
gangsformen sowohl zwischen lebenden, als auch zwischen ausgestorbe-
nen Arten in außerordentlicher Menge, überall nämlich da, wo wir
Gelegenheit haben, sehr zahlreiche Jndividuen von verwandten Arten
vergleichend in's Auge zu fassen. Grade diejenigen sorgfältigsten Unter-
sucher der einzelnen Species, von denen man jenen Einwurf häufig
hört, grade diese finden wir in ihren speciellen Untersuchungsreihen
beständig durch die in der That unlösbare Schwierigkeit aufgehalten,
die einzelnen Arten scharf zu unterscheiden. Jn allen systematischen
Werken, welche einigermaßen gründlich sind, begegnen Sie endlosen
Klagen darüber, daß man hier und dort die Arten nicht unterscheiden
könne, weil zu viele Uebergangsformen vorhanden seien. Daher bestimmt
auch jeder Naturforscher den Umfang und die Zahl der einzelnen Arten
anders, als die übrigen. Wie ich schon früher erwähnte (S. 223), nehmen
in einer und derselben Organismengruppe die einen Zoologen und
Botaniker 10 Arten an, andere 20, andere hundert oder mehr, während
noch andere Systematiker alle diese verschiedenen Formen nur als
Spielarten oder Varietäten einer einzigen "guten Species" betrachten.
Man braucht daher bei den meisten Formengruppen wahrlich nicht lange
zu suchen, um die von Vielen vermißten Uebergangsformen und Zwi-
schenstufen zwischen den einzelnen Species in Hülle und Fülle zu finden.

Uebergangsformen zwiſchen den organiſchen Arten.
lativitaͤt alles Zeitmaaßes auf das Unmittelbarſte vor Augen. Ganz
gewiß muͤſſen, wenn die Entwickelungslehre uͤberhaupt wahr iſt, unge-
heuere, uns gar nicht vorſtellbare Zeitraͤume verfloſſen ſein, waͤhrend die
ſtufenweiſe hiſtoriſche Entwickelung des Thier- und Pflanzenreichs durch
allmaͤhliche Umbildung der Arten vor ſich ging. Es liegt aber auch
nicht ein einziger Grund vor, irgend eine beſtimmte Grenze fuͤr die
Laͤnge jener phyletiſchen Entwickelungsperioden anzunehmen.

Ein zweiter Haupteinwand, der von vielen, namentlich ſyſtema-
tiſchen Zoologen und Botanikern, gegen die Abſtammungslehre erhoben
wird, iſt der, daß man keine Uebergangsformen zwiſchen den
verſchiedenen Arten finden koͤnne, waͤhrend man dieſe doch nach der
Abſtammungslehre in Menge finden muͤßte. Dieſer Einwurf iſt zum
Theil begruͤndet, zum Theil aber auch nicht. Denn es exiſtiren Ueber-
gangsformen ſowohl zwiſchen lebenden, als auch zwiſchen ausgeſtorbe-
nen Arten in außerordentlicher Menge, uͤberall naͤmlich da, wo wir
Gelegenheit haben, ſehr zahlreiche Jndividuen von verwandten Arten
vergleichend in’s Auge zu faſſen. Grade diejenigen ſorgfaͤltigſten Unter-
ſucher der einzelnen Species, von denen man jenen Einwurf haͤufig
hoͤrt, grade dieſe finden wir in ihren ſpeciellen Unterſuchungsreihen
beſtaͤndig durch die in der That unloͤsbare Schwierigkeit aufgehalten,
die einzelnen Arten ſcharf zu unterſcheiden. Jn allen ſyſtematiſchen
Werken, welche einigermaßen gruͤndlich ſind, begegnen Sie endloſen
Klagen daruͤber, daß man hier und dort die Arten nicht unterſcheiden
koͤnne, weil zu viele Uebergangsformen vorhanden ſeien. Daher beſtimmt
auch jeder Naturforſcher den Umfang und die Zahl der einzelnen Arten
anders, als die uͤbrigen. Wie ich ſchon fruͤher erwaͤhnte (S. 223), nehmen
in einer und derſelben Organismengruppe die einen Zoologen und
Botaniker 10 Arten an, andere 20, andere hundert oder mehr, waͤhrend
noch andere Syſtematiker alle dieſe verſchiedenen Formen nur als
Spielarten oder Varietaͤten einer einzigen „guten Species“ betrachten.
Man braucht daher bei den meiſten Formengruppen wahrlich nicht lange
zu ſuchen, um die von Vielen vermißten Uebergangsformen und Zwi-
ſchenſtufen zwiſchen den einzelnen Species in Huͤlle und Fuͤlle zu finden.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0550" n="525"/><fw place="top" type="header">Uebergangsformen zwi&#x017F;chen den organi&#x017F;chen Arten.</fw><lb/>
lativita&#x0364;t alles Zeitmaaßes auf das Unmittelbar&#x017F;te vor Augen. Ganz<lb/>
gewiß mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, wenn die Entwickelungslehre u&#x0364;berhaupt wahr i&#x017F;t, unge-<lb/>
heuere, uns gar nicht vor&#x017F;tellbare Zeitra&#x0364;ume verflo&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ein, wa&#x0364;hrend die<lb/>
&#x017F;tufenwei&#x017F;e hi&#x017F;tori&#x017F;che Entwickelung des Thier- und Pflanzenreichs durch<lb/>
allma&#x0364;hliche Umbildung der Arten vor &#x017F;ich ging. Es liegt aber auch<lb/>
nicht ein einziger Grund vor, irgend eine be&#x017F;timmte Grenze fu&#x0364;r die<lb/>
La&#x0364;nge jener phyleti&#x017F;chen Entwickelungsperioden anzunehmen.</p><lb/>
        <p>Ein zweiter Haupteinwand, der von vielen, namentlich &#x017F;y&#x017F;tema-<lb/>
ti&#x017F;chen Zoologen und Botanikern, gegen die Ab&#x017F;tammungslehre erhoben<lb/>
wird, i&#x017F;t der, daß man keine <hi rendition="#g">Uebergangsformen</hi> zwi&#x017F;chen den<lb/>
ver&#x017F;chiedenen Arten finden ko&#x0364;nne, wa&#x0364;hrend man die&#x017F;e doch nach der<lb/>
Ab&#x017F;tammungslehre in Menge finden mu&#x0364;ßte. Die&#x017F;er Einwurf i&#x017F;t zum<lb/>
Theil begru&#x0364;ndet, zum Theil aber auch nicht. Denn es exi&#x017F;tiren Ueber-<lb/>
gangsformen &#x017F;owohl zwi&#x017F;chen lebenden, als auch zwi&#x017F;chen ausge&#x017F;torbe-<lb/>
nen Arten in außerordentlicher Menge, u&#x0364;berall na&#x0364;mlich da, wo wir<lb/>
Gelegenheit haben, &#x017F;ehr zahlreiche Jndividuen von verwandten Arten<lb/>
vergleichend in&#x2019;s Auge zu fa&#x017F;&#x017F;en. Grade diejenigen &#x017F;orgfa&#x0364;ltig&#x017F;ten Unter-<lb/>
&#x017F;ucher der einzelnen Species, von denen man jenen Einwurf ha&#x0364;ufig<lb/>
ho&#x0364;rt, grade die&#x017F;e finden wir in ihren &#x017F;peciellen Unter&#x017F;uchungsreihen<lb/>
be&#x017F;ta&#x0364;ndig durch die in der That unlo&#x0364;sbare Schwierigkeit aufgehalten,<lb/>
die einzelnen Arten &#x017F;charf zu unter&#x017F;cheiden. Jn allen &#x017F;y&#x017F;temati&#x017F;chen<lb/>
Werken, welche einigermaßen gru&#x0364;ndlich &#x017F;ind, begegnen Sie endlo&#x017F;en<lb/>
Klagen daru&#x0364;ber, daß man hier und dort die Arten nicht unter&#x017F;cheiden<lb/>
ko&#x0364;nne, weil zu viele Uebergangsformen vorhanden &#x017F;eien. Daher be&#x017F;timmt<lb/>
auch jeder Naturfor&#x017F;cher den Umfang und die Zahl der einzelnen Arten<lb/>
anders, als die u&#x0364;brigen. Wie ich &#x017F;chon fru&#x0364;her erwa&#x0364;hnte (S. 223), nehmen<lb/>
in einer und der&#x017F;elben Organismengruppe die einen Zoologen und<lb/>
Botaniker 10 Arten an, andere 20, andere hundert oder mehr, wa&#x0364;hrend<lb/>
noch andere Sy&#x017F;tematiker alle die&#x017F;e ver&#x017F;chiedenen Formen nur als<lb/>
Spielarten oder Varieta&#x0364;ten einer einzigen &#x201E;guten Species&#x201C; betrachten.<lb/>
Man braucht daher bei den mei&#x017F;ten Formengruppen wahrlich nicht lange<lb/>
zu &#x017F;uchen, um die von Vielen vermißten Uebergangsformen und Zwi-<lb/>
&#x017F;chen&#x017F;tufen zwi&#x017F;chen den einzelnen Species in Hu&#x0364;lle und Fu&#x0364;lle zu finden.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[525/0550] Uebergangsformen zwiſchen den organiſchen Arten. lativitaͤt alles Zeitmaaßes auf das Unmittelbarſte vor Augen. Ganz gewiß muͤſſen, wenn die Entwickelungslehre uͤberhaupt wahr iſt, unge- heuere, uns gar nicht vorſtellbare Zeitraͤume verfloſſen ſein, waͤhrend die ſtufenweiſe hiſtoriſche Entwickelung des Thier- und Pflanzenreichs durch allmaͤhliche Umbildung der Arten vor ſich ging. Es liegt aber auch nicht ein einziger Grund vor, irgend eine beſtimmte Grenze fuͤr die Laͤnge jener phyletiſchen Entwickelungsperioden anzunehmen. Ein zweiter Haupteinwand, der von vielen, namentlich ſyſtema- tiſchen Zoologen und Botanikern, gegen die Abſtammungslehre erhoben wird, iſt der, daß man keine Uebergangsformen zwiſchen den verſchiedenen Arten finden koͤnne, waͤhrend man dieſe doch nach der Abſtammungslehre in Menge finden muͤßte. Dieſer Einwurf iſt zum Theil begruͤndet, zum Theil aber auch nicht. Denn es exiſtiren Ueber- gangsformen ſowohl zwiſchen lebenden, als auch zwiſchen ausgeſtorbe- nen Arten in außerordentlicher Menge, uͤberall naͤmlich da, wo wir Gelegenheit haben, ſehr zahlreiche Jndividuen von verwandten Arten vergleichend in’s Auge zu faſſen. Grade diejenigen ſorgfaͤltigſten Unter- ſucher der einzelnen Species, von denen man jenen Einwurf haͤufig hoͤrt, grade dieſe finden wir in ihren ſpeciellen Unterſuchungsreihen beſtaͤndig durch die in der That unloͤsbare Schwierigkeit aufgehalten, die einzelnen Arten ſcharf zu unterſcheiden. Jn allen ſyſtematiſchen Werken, welche einigermaßen gruͤndlich ſind, begegnen Sie endloſen Klagen daruͤber, daß man hier und dort die Arten nicht unterſcheiden koͤnne, weil zu viele Uebergangsformen vorhanden ſeien. Daher beſtimmt auch jeder Naturforſcher den Umfang und die Zahl der einzelnen Arten anders, als die uͤbrigen. Wie ich ſchon fruͤher erwaͤhnte (S. 223), nehmen in einer und derſelben Organismengruppe die einen Zoologen und Botaniker 10 Arten an, andere 20, andere hundert oder mehr, waͤhrend noch andere Syſtematiker alle dieſe verſchiedenen Formen nur als Spielarten oder Varietaͤten einer einzigen „guten Species“ betrachten. Man braucht daher bei den meiſten Formengruppen wahrlich nicht lange zu ſuchen, um die von Vielen vermißten Uebergangsformen und Zwi- ſchenſtufen zwiſchen den einzelnen Species in Huͤlle und Fuͤlle zu finden.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/550
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 525. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/550>, abgerufen am 22.11.2024.