Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

Schöpfungsgeschichte des Moses.
Nun erst ist die Erde für Organismen bewohnbar geworden und es
werden zunächst die Pflanzen, später erst die Thiere erschaffen, und
zwar von den letzteren zuerst die Bewohner des Wassers und der Luft,
später erst die Bewohner des Festlands. Endlich zuletzt von allen Or-
ganismen schafft Gott den Menschen, sich selbst zum Ebenbilde und
zum Beherrscher der Erde.

Zwei große und wichtige Grundgedanken der natürlichen Entwi-
ckelungstheorie treten uns in dieser Schöpfungshypothese des Moses
mit überraschender Klarheit und Einfachheit entgegen, der Gedanke
der Sonderung oder Differenzirung, und der Gedanke der fort-
schreitenden Entwickelung oder Vervollkommnung. Obwohl Mo-
ses
diese großen Gesetze der organischen Entwickelung, die wir später
als nothwendige Folgerungen der Abstammungslehre nachweisen wer-
den, als die unmittelbare Bildungsthätigkeit eines gestaltenden Schöpfers
ansieht, liegt doch darin der erhabnere Gedanke einer fortschreitenden
Entwickelung und Differenzirung der ursprünglich einfachen Materie
verborgen. Wir können daher dem großartigen Naturverständniß des
jüdischen Gesetzgebers und der einfach natürlichen Fassung seiner Schö-
pfungshypothese unsere gerechte und aufrichtige Bewunderung zollen,
ohne darin gradezu eine göttliche Offenbarung zu erblicken. Daß sie
dies nicht sein kann, geht einfach schon daraus hervor, daß darin zwei
große Grundirrthümer behauptet werden, nämlich erstens der geo-
centrische Jrrthum,
daß die Erde der feste Mittelpunkt der ganzen
Welt sei, um welchen sich Sonne, Mond und Sterne bewegen; und
zweitens der anthropocentrische Jrrthum, daß der Mensch
das vorbedachte Endziel der irdischen Schöpfung sei, für dessen Dienst
die ganze übrige Natur nur geschaffen sei. Der erstere Jrrthum wurde
durch Kopernikus' Weltsystem im Beginn des sechszehnten, der
letztere durch Lamarck's Abstammungslehre im Beginn des neun-
zehnten Jahrhunderts vernichtet.

Trotzdem durch Kopernikus bereits der geocentrische Jrr-
thum der mosaischen Schöpfungsgeschichte nachgewiesen und damit
die Autorität derselben als einer absolut vollkommenen göttlichen Of-

Schoͤpfungsgeſchichte des Moſes.
Nun erſt iſt die Erde fuͤr Organismen bewohnbar geworden und es
werden zunaͤchſt die Pflanzen, ſpaͤter erſt die Thiere erſchaffen, und
zwar von den letzteren zuerſt die Bewohner des Waſſers und der Luft,
ſpaͤter erſt die Bewohner des Feſtlands. Endlich zuletzt von allen Or-
ganismen ſchafft Gott den Menſchen, ſich ſelbſt zum Ebenbilde und
zum Beherrſcher der Erde.

Zwei große und wichtige Grundgedanken der natuͤrlichen Entwi-
ckelungstheorie treten uns in dieſer Schoͤpfungshypotheſe des Moſes
mit uͤberraſchender Klarheit und Einfachheit entgegen, der Gedanke
der Sonderung oder Differenzirung, und der Gedanke der fort-
ſchreitenden Entwickelung oder Vervollkommnung. Obwohl Mo-
ſes
dieſe großen Geſetze der organiſchen Entwickelung, die wir ſpaͤter
als nothwendige Folgerungen der Abſtammungslehre nachweiſen wer-
den, als die unmittelbare Bildungsthaͤtigkeit eines geſtaltenden Schoͤpfers
anſieht, liegt doch darin der erhabnere Gedanke einer fortſchreitenden
Entwickelung und Differenzirung der urſpruͤnglich einfachen Materie
verborgen. Wir koͤnnen daher dem großartigen Naturverſtaͤndniß des
juͤdiſchen Geſetzgebers und der einfach natuͤrlichen Faſſung ſeiner Schoͤ-
pfungshypotheſe unſere gerechte und aufrichtige Bewunderung zollen,
ohne darin gradezu eine goͤttliche Offenbarung zu erblicken. Daß ſie
dies nicht ſein kann, geht einfach ſchon daraus hervor, daß darin zwei
große Grundirrthuͤmer behauptet werden, naͤmlich erſtens der geo-
centriſche Jrrthum,
daß die Erde der feſte Mittelpunkt der ganzen
Welt ſei, um welchen ſich Sonne, Mond und Sterne bewegen; und
zweitens der anthropocentriſche Jrrthum, daß der Menſch
das vorbedachte Endziel der irdiſchen Schoͤpfung ſei, fuͤr deſſen Dienſt
die ganze uͤbrige Natur nur geſchaffen ſei. Der erſtere Jrrthum wurde
durch Kopernikus’ Weltſyſtem im Beginn des ſechszehnten, der
letztere durch Lamarck’s Abſtammungslehre im Beginn des neun-
zehnten Jahrhunderts vernichtet.

Trotzdem durch Kopernikus bereits der geocentriſche Jrr-
thum der moſaiſchen Schoͤpfungsgeſchichte nachgewieſen und damit
die Autoritaͤt derſelben als einer abſolut vollkommenen goͤttlichen Of-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0051" n="30"/><fw place="top" type="header">Scho&#x0364;pfungsge&#x017F;chichte des Mo&#x017F;es.</fw><lb/>
Nun er&#x017F;t i&#x017F;t die Erde fu&#x0364;r Organismen bewohnbar geworden und es<lb/>
werden zuna&#x0364;ch&#x017F;t die Pflanzen, &#x017F;pa&#x0364;ter er&#x017F;t die Thiere er&#x017F;chaffen, und<lb/>
zwar von den letzteren zuer&#x017F;t die Bewohner des Wa&#x017F;&#x017F;ers und der Luft,<lb/>
&#x017F;pa&#x0364;ter er&#x017F;t die Bewohner des Fe&#x017F;tlands. Endlich zuletzt von allen Or-<lb/>
ganismen &#x017F;chafft Gott den Men&#x017F;chen, &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t zum Ebenbilde und<lb/>
zum Beherr&#x017F;cher der Erde.</p><lb/>
        <p>Zwei große und wichtige Grundgedanken der natu&#x0364;rlichen Entwi-<lb/>
ckelungstheorie treten uns in die&#x017F;er Scho&#x0364;pfungshypothe&#x017F;e des <hi rendition="#g">Mo&#x017F;es</hi><lb/>
mit u&#x0364;berra&#x017F;chender Klarheit und Einfachheit entgegen, der Gedanke<lb/>
der Sonderung oder <hi rendition="#g">Differenzirung,</hi> und der Gedanke der fort-<lb/>
&#x017F;chreitenden Entwickelung oder <hi rendition="#g">Vervollkommnung.</hi> Obwohl <hi rendition="#g">Mo-<lb/>
&#x017F;es</hi> die&#x017F;e großen Ge&#x017F;etze der organi&#x017F;chen Entwickelung, die wir &#x017F;pa&#x0364;ter<lb/>
als nothwendige Folgerungen der Ab&#x017F;tammungslehre nachwei&#x017F;en wer-<lb/>
den, als die unmittelbare Bildungstha&#x0364;tigkeit eines ge&#x017F;taltenden Scho&#x0364;pfers<lb/>
an&#x017F;ieht, liegt doch darin der erhabnere Gedanke einer fort&#x017F;chreitenden<lb/>
Entwickelung und Differenzirung der ur&#x017F;pru&#x0364;nglich einfachen Materie<lb/>
verborgen. Wir ko&#x0364;nnen daher dem großartigen Naturver&#x017F;ta&#x0364;ndniß des<lb/>
ju&#x0364;di&#x017F;chen Ge&#x017F;etzgebers und der einfach natu&#x0364;rlichen Fa&#x017F;&#x017F;ung &#x017F;einer Scho&#x0364;-<lb/>
pfungshypothe&#x017F;e un&#x017F;ere gerechte und aufrichtige Bewunderung zollen,<lb/>
ohne darin gradezu eine go&#x0364;ttliche Offenbarung zu erblicken. Daß &#x017F;ie<lb/>
dies nicht &#x017F;ein kann, geht einfach &#x017F;chon daraus hervor, daß darin zwei<lb/>
große Grundirrthu&#x0364;mer behauptet werden, na&#x0364;mlich er&#x017F;tens der <hi rendition="#g">geo-<lb/>
centri&#x017F;che Jrrthum,</hi> daß die Erde der fe&#x017F;te Mittelpunkt der ganzen<lb/>
Welt &#x017F;ei, um welchen &#x017F;ich Sonne, Mond und Sterne bewegen; und<lb/>
zweitens der <hi rendition="#g">anthropocentri&#x017F;che Jrrthum,</hi> daß der Men&#x017F;ch<lb/>
das vorbedachte Endziel der irdi&#x017F;chen Scho&#x0364;pfung &#x017F;ei, fu&#x0364;r de&#x017F;&#x017F;en Dien&#x017F;t<lb/>
die ganze u&#x0364;brige Natur nur ge&#x017F;chaffen &#x017F;ei. Der er&#x017F;tere Jrrthum wurde<lb/>
durch <hi rendition="#g">Kopernikus&#x2019;</hi> Welt&#x017F;y&#x017F;tem im Beginn des &#x017F;echszehnten, der<lb/>
letztere durch <hi rendition="#g">Lamarck&#x2019;s</hi> Ab&#x017F;tammungslehre im Beginn des neun-<lb/>
zehnten Jahrhunderts vernichtet.</p><lb/>
        <p>Trotzdem durch <hi rendition="#g">Kopernikus</hi> bereits der geocentri&#x017F;che Jrr-<lb/>
thum der mo&#x017F;ai&#x017F;chen Scho&#x0364;pfungsge&#x017F;chichte nachgewie&#x017F;en und damit<lb/>
die Autorita&#x0364;t der&#x017F;elben als einer ab&#x017F;olut vollkommenen go&#x0364;ttlichen Of-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[30/0051] Schoͤpfungsgeſchichte des Moſes. Nun erſt iſt die Erde fuͤr Organismen bewohnbar geworden und es werden zunaͤchſt die Pflanzen, ſpaͤter erſt die Thiere erſchaffen, und zwar von den letzteren zuerſt die Bewohner des Waſſers und der Luft, ſpaͤter erſt die Bewohner des Feſtlands. Endlich zuletzt von allen Or- ganismen ſchafft Gott den Menſchen, ſich ſelbſt zum Ebenbilde und zum Beherrſcher der Erde. Zwei große und wichtige Grundgedanken der natuͤrlichen Entwi- ckelungstheorie treten uns in dieſer Schoͤpfungshypotheſe des Moſes mit uͤberraſchender Klarheit und Einfachheit entgegen, der Gedanke der Sonderung oder Differenzirung, und der Gedanke der fort- ſchreitenden Entwickelung oder Vervollkommnung. Obwohl Mo- ſes dieſe großen Geſetze der organiſchen Entwickelung, die wir ſpaͤter als nothwendige Folgerungen der Abſtammungslehre nachweiſen wer- den, als die unmittelbare Bildungsthaͤtigkeit eines geſtaltenden Schoͤpfers anſieht, liegt doch darin der erhabnere Gedanke einer fortſchreitenden Entwickelung und Differenzirung der urſpruͤnglich einfachen Materie verborgen. Wir koͤnnen daher dem großartigen Naturverſtaͤndniß des juͤdiſchen Geſetzgebers und der einfach natuͤrlichen Faſſung ſeiner Schoͤ- pfungshypotheſe unſere gerechte und aufrichtige Bewunderung zollen, ohne darin gradezu eine goͤttliche Offenbarung zu erblicken. Daß ſie dies nicht ſein kann, geht einfach ſchon daraus hervor, daß darin zwei große Grundirrthuͤmer behauptet werden, naͤmlich erſtens der geo- centriſche Jrrthum, daß die Erde der feſte Mittelpunkt der ganzen Welt ſei, um welchen ſich Sonne, Mond und Sterne bewegen; und zweitens der anthropocentriſche Jrrthum, daß der Menſch das vorbedachte Endziel der irdiſchen Schoͤpfung ſei, fuͤr deſſen Dienſt die ganze uͤbrige Natur nur geſchaffen ſei. Der erſtere Jrrthum wurde durch Kopernikus’ Weltſyſtem im Beginn des ſechszehnten, der letztere durch Lamarck’s Abſtammungslehre im Beginn des neun- zehnten Jahrhunderts vernichtet. Trotzdem durch Kopernikus bereits der geocentriſche Jrr- thum der moſaiſchen Schoͤpfungsgeſchichte nachgewieſen und damit die Autoritaͤt derſelben als einer abſolut vollkommenen goͤttlichen Of-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/51
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/51>, abgerufen am 25.11.2024.