Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

Placentalthiere ohne und mit Decidua.
des Mutterkuchens selbst. Bei den Jndeciduen besteht derselbe mei-
stens aus zahlreichen einzelnen, zerstreuten Gefäßknöpfen oder Zotten,
und man kann daher diese Gruppe auch als Zottenplacentner
(Sparsiplacentalia) bezeichnen. Bei den Deciduaten dagegen sind die
einzelnen Gefäßzotten zu einem zusammenhängenden Kuchen vereinigt,
und dieser erscheint in zweierlei verschiedener Gestalt. Jn den einen
nämlich umgiebt er den Embryo in Form eines geschlossenen Gürtels oder
Ringes, so daß nur die beiden Pole der länglichrunden Eiblase von
Zotten frei bleiben. Das ist der Fall bei den Raubthieren (Carnaria)
und den Scheinhufern (Chelophora), die wir deßhalb als Gürtel-
placentner
(Zonoplacentalia) zusammenfassen. Jn den anderen
Deciduathieren dagegen, zu welchen auch der Mensch gehört, bildet
die Placenta eine einfache runde Scheibe, und wir nennen sie daher
Scheibenplacentner (Discoplacentalia). Das sind die fünf
Ordnungen der Halbaffen, Nagethiere, Jnsectenfresser, Flederthiere
und Affen, von welchen letzteren auch der Mensch im zoologischen Sy-
steme nicht zu trennen ist.

Daß die Placentalthieren erst aus den Beutelthieren sich entwickelt
haben, darf auf Grund ihrer vergleichenden Anatomie und Entwicke-
lungsgeschichte als ganz sicher angesehen werden, und wahrscheinlich
fand diese höchst wichtige Entwickelung, die erste Entstehung der Pla-
centa, erst im Beginn der Tertiärzeit, während der Anteocen-Periode,
statt. Dagegen gehört zu den schwierigsten Fragen der thierischen Ge-
nealogie die wichtige Untersuchung, ob alle Placentalthiere aus einem
oder aus mehreren getrennten Zweigen der Beutlergruppe entstanden
sind, mit anderen Worten, ob die Entstehung der Placenta einmal oder
mehrmal statt hatte. Als ich vor zwei Jahren in meiner generellen
Morphologie zum ersten Male den Stammbaum der Säugethiere zu
begründen versuchte, zog ich auch hier, wie meistens, die monophy-
letische oder einwurzelige Descendenzhypothese der polyphyletischen oder
vielwurzeligen vor. Jch nahm an, daß alle Placentner von einer ein-
zigen Beutelthierform abstammten, die zum ersten Male eine Placenta
zu bilden begann. Dann wären die Sparsiplacentalien, Zonopla-

Placentalthiere ohne und mit Decidua.
des Mutterkuchens ſelbſt. Bei den Jndeciduen beſteht derſelbe mei-
ſtens aus zahlreichen einzelnen, zerſtreuten Gefaͤßknoͤpfen oder Zotten,
und man kann daher dieſe Gruppe auch als Zottenplacentner
(Sparsiplacentalia) bezeichnen. Bei den Deciduaten dagegen ſind die
einzelnen Gefaͤßzotten zu einem zuſammenhaͤngenden Kuchen vereinigt,
und dieſer erſcheint in zweierlei verſchiedener Geſtalt. Jn den einen
naͤmlich umgiebt er den Embryo in Form eines geſchloſſenen Guͤrtels oder
Ringes, ſo daß nur die beiden Pole der laͤnglichrunden Eiblaſe von
Zotten frei bleiben. Das iſt der Fall bei den Raubthieren (Carnaria)
und den Scheinhufern (Chelophora), die wir deßhalb als Guͤrtel-
placentner
(Zonoplacentalia) zuſammenfaſſen. Jn den anderen
Deciduathieren dagegen, zu welchen auch der Menſch gehoͤrt, bildet
die Placenta eine einfache runde Scheibe, und wir nennen ſie daher
Scheibenplacentner (Discoplacentalia). Das ſind die fuͤnf
Ordnungen der Halbaffen, Nagethiere, Jnſectenfreſſer, Flederthiere
und Affen, von welchen letzteren auch der Menſch im zoologiſchen Sy-
ſteme nicht zu trennen iſt.

Daß die Placentalthieren erſt aus den Beutelthieren ſich entwickelt
haben, darf auf Grund ihrer vergleichenden Anatomie und Entwicke-
lungsgeſchichte als ganz ſicher angeſehen werden, und wahrſcheinlich
fand dieſe hoͤchſt wichtige Entwickelung, die erſte Entſtehung der Pla-
centa, erſt im Beginn der Tertiaͤrzeit, waͤhrend der Anteocen-Periode,
ſtatt. Dagegen gehoͤrt zu den ſchwierigſten Fragen der thieriſchen Ge-
nealogie die wichtige Unterſuchung, ob alle Placentalthiere aus einem
oder aus mehreren getrennten Zweigen der Beutlergruppe entſtanden
ſind, mit anderen Worten, ob die Entſtehung der Placenta einmal oder
mehrmal ſtatt hatte. Als ich vor zwei Jahren in meiner generellen
Morphologie zum erſten Male den Stammbaum der Saͤugethiere zu
begruͤnden verſuchte, zog ich auch hier, wie meiſtens, die monophy-
letiſche oder einwurzelige Deſcendenzhypotheſe der polyphyletiſchen oder
vielwurzeligen vor. Jch nahm an, daß alle Placentner von einer ein-
zigen Beutelthierform abſtammten, die zum erſten Male eine Placenta
zu bilden begann. Dann waͤren die Sparſiplacentalien, Zonopla-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0498" n="473"/><fw place="top" type="header">Placentalthiere ohne und mit Decidua.</fw><lb/>
des Mutterkuchens &#x017F;elb&#x017F;t. Bei den Jndeciduen be&#x017F;teht der&#x017F;elbe mei-<lb/>
&#x017F;tens aus zahlreichen einzelnen, zer&#x017F;treuten Gefa&#x0364;ßkno&#x0364;pfen oder Zotten,<lb/>
und man kann daher die&#x017F;e Gruppe auch als <hi rendition="#g">Zottenplacentner</hi><lb/><hi rendition="#aq">(Sparsiplacentalia)</hi> bezeichnen. Bei den Deciduaten dagegen &#x017F;ind die<lb/>
einzelnen Gefa&#x0364;ßzotten zu einem zu&#x017F;ammenha&#x0364;ngenden Kuchen vereinigt,<lb/>
und die&#x017F;er er&#x017F;cheint in zweierlei ver&#x017F;chiedener Ge&#x017F;talt. Jn den einen<lb/>
na&#x0364;mlich umgiebt er den Embryo in Form eines ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enen Gu&#x0364;rtels oder<lb/>
Ringes, &#x017F;o daß nur die beiden Pole der la&#x0364;nglichrunden Eibla&#x017F;e von<lb/>
Zotten frei bleiben. Das i&#x017F;t der Fall bei den Raubthieren <hi rendition="#aq">(Carnaria)</hi><lb/>
und den Scheinhufern <hi rendition="#aq">(Chelophora),</hi> die wir deßhalb als <hi rendition="#g">Gu&#x0364;rtel-<lb/>
placentner</hi> <hi rendition="#aq">(Zonoplacentalia)</hi> zu&#x017F;ammenfa&#x017F;&#x017F;en. Jn den anderen<lb/>
Deciduathieren dagegen, zu welchen auch der Men&#x017F;ch geho&#x0364;rt, bildet<lb/>
die Placenta eine einfache runde Scheibe, und wir nennen &#x017F;ie daher<lb/><hi rendition="#g">Scheibenplacentner</hi> <hi rendition="#aq">(Discoplacentalia).</hi> Das &#x017F;ind die fu&#x0364;nf<lb/>
Ordnungen der Halbaffen, Nagethiere, Jn&#x017F;ectenfre&#x017F;&#x017F;er, Flederthiere<lb/>
und Affen, von welchen letzteren auch der Men&#x017F;ch im zoologi&#x017F;chen Sy-<lb/>
&#x017F;teme nicht zu trennen i&#x017F;t.</p><lb/>
        <p>Daß die Placentalthieren er&#x017F;t aus den Beutelthieren &#x017F;ich entwickelt<lb/>
haben, darf auf Grund ihrer vergleichenden Anatomie und Entwicke-<lb/>
lungsge&#x017F;chichte als ganz &#x017F;icher ange&#x017F;ehen werden, und wahr&#x017F;cheinlich<lb/>
fand die&#x017F;e ho&#x0364;ch&#x017F;t wichtige Entwickelung, die er&#x017F;te Ent&#x017F;tehung der Pla-<lb/>
centa, er&#x017F;t im Beginn der Tertia&#x0364;rzeit, wa&#x0364;hrend der Anteocen-Periode,<lb/>
&#x017F;tatt. Dagegen geho&#x0364;rt zu den &#x017F;chwierig&#x017F;ten Fragen der thieri&#x017F;chen Ge-<lb/>
nealogie die wichtige Unter&#x017F;uchung, ob alle Placentalthiere aus einem<lb/>
oder aus mehreren getrennten Zweigen der Beutlergruppe ent&#x017F;tanden<lb/>
&#x017F;ind, mit anderen Worten, ob die Ent&#x017F;tehung der Placenta einmal oder<lb/>
mehrmal &#x017F;tatt hatte. Als ich vor zwei Jahren in meiner generellen<lb/>
Morphologie zum er&#x017F;ten Male den Stammbaum der Sa&#x0364;ugethiere zu<lb/>
begru&#x0364;nden ver&#x017F;uchte, zog ich auch hier, wie mei&#x017F;tens, die monophy-<lb/>
leti&#x017F;che oder einwurzelige De&#x017F;cendenzhypothe&#x017F;e der polyphyleti&#x017F;chen oder<lb/>
vielwurzeligen vor. Jch nahm an, daß alle Placentner von einer ein-<lb/>
zigen Beutelthierform ab&#x017F;tammten, die zum er&#x017F;ten Male eine Placenta<lb/>
zu bilden begann. Dann wa&#x0364;ren die Spar&#x017F;iplacentalien, Zonopla-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[473/0498] Placentalthiere ohne und mit Decidua. des Mutterkuchens ſelbſt. Bei den Jndeciduen beſteht derſelbe mei- ſtens aus zahlreichen einzelnen, zerſtreuten Gefaͤßknoͤpfen oder Zotten, und man kann daher dieſe Gruppe auch als Zottenplacentner (Sparsiplacentalia) bezeichnen. Bei den Deciduaten dagegen ſind die einzelnen Gefaͤßzotten zu einem zuſammenhaͤngenden Kuchen vereinigt, und dieſer erſcheint in zweierlei verſchiedener Geſtalt. Jn den einen naͤmlich umgiebt er den Embryo in Form eines geſchloſſenen Guͤrtels oder Ringes, ſo daß nur die beiden Pole der laͤnglichrunden Eiblaſe von Zotten frei bleiben. Das iſt der Fall bei den Raubthieren (Carnaria) und den Scheinhufern (Chelophora), die wir deßhalb als Guͤrtel- placentner (Zonoplacentalia) zuſammenfaſſen. Jn den anderen Deciduathieren dagegen, zu welchen auch der Menſch gehoͤrt, bildet die Placenta eine einfache runde Scheibe, und wir nennen ſie daher Scheibenplacentner (Discoplacentalia). Das ſind die fuͤnf Ordnungen der Halbaffen, Nagethiere, Jnſectenfreſſer, Flederthiere und Affen, von welchen letzteren auch der Menſch im zoologiſchen Sy- ſteme nicht zu trennen iſt. Daß die Placentalthieren erſt aus den Beutelthieren ſich entwickelt haben, darf auf Grund ihrer vergleichenden Anatomie und Entwicke- lungsgeſchichte als ganz ſicher angeſehen werden, und wahrſcheinlich fand dieſe hoͤchſt wichtige Entwickelung, die erſte Entſtehung der Pla- centa, erſt im Beginn der Tertiaͤrzeit, waͤhrend der Anteocen-Periode, ſtatt. Dagegen gehoͤrt zu den ſchwierigſten Fragen der thieriſchen Ge- nealogie die wichtige Unterſuchung, ob alle Placentalthiere aus einem oder aus mehreren getrennten Zweigen der Beutlergruppe entſtanden ſind, mit anderen Worten, ob die Entſtehung der Placenta einmal oder mehrmal ſtatt hatte. Als ich vor zwei Jahren in meiner generellen Morphologie zum erſten Male den Stammbaum der Saͤugethiere zu begruͤnden verſuchte, zog ich auch hier, wie meiſtens, die monophy- letiſche oder einwurzelige Deſcendenzhypotheſe der polyphyletiſchen oder vielwurzeligen vor. Jch nahm an, daß alle Placentner von einer ein- zigen Beutelthierform abſtammten, die zum erſten Male eine Placenta zu bilden begann. Dann waͤren die Sparſiplacentalien, Zonopla-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/498
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 473. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/498>, abgerufen am 10.06.2024.