Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite
Paarnasen oder Amphirrhinen.

Alle Wirbelthiere, welche jetzt noch leben, mit Ausnahme der eben
betrachteten Monorrhinen und des Amphioxus, gehören zu derjenigen
Hauptgruppe, welche wir als Paarnasen (Amphirrhina) bezeich-
neten. Alle diese Thiere besitzen (trotz der großen Mannichfaltigkeit
in ihrer sonstigen Bildung) eine aus zwei paarigen Seitenhälften be-
stehende Nase, ein sympathisches Nervennetz, drei Ringcanäle im Ge-
hörorgan, eine Milz und eine Bauchspeicheldrüse. Alle Paarnasen
besitzen ferner eine blasenförmige Ausstülpung des Schlundes, welche
sich bei den Fischen zur Schwimmblase, bei den übrigen Paarnasen
zur Lunge entwickelt hat. Endlich ist ursprünglich bei allen Paarnasen
die Anlage von zwei paar Extremitäten oder Gliedmaßen vorhanden,
ein paar Vorderbeine oder Brustflossen, und ein paar Hinterbeine
oder Bauchflossen. Allerdings ist bisweilen das eine Beinpaar (z. B.
bei den Aalen und Walfischen) oder beide Beinpaare (z. B. bei den
Caecilien und Schlangen) verkümmert oder gänzlich verloren gegangen;
aber selbst in diesen Fällen ist wenigstens die Spur ihrer ursprüngli-
chen Anlage in früher Embryonalzeit zu finden, oder es bleiben un-
nütze Reste derselben als rudimentäre Organe durch das ganze Leben
bestehen (Vergl. oben S. 11).

Aus allen diesen wichtigen Anzeichen können wir mit voller Si-
cherheit schließen, daß sämmtliche Paarnasen von einer einzigen ge-
meinschaftlichen Stammform abstammen, welche während der Pri-
mordialzeit direct oder indirect sich aus den Monorrhinen entwickelt
hatte. Diese Stammform muß die eben angeführten Organe, na-
mentlich auch die Anlage zur Schwimmblase und zu zwei Beinpaaren
oder Flossenpaaren besessen haben. Von allen jetzt lebenden Paar-
nasen stehen offenbar die niedersten Formen der Haifische dieser längst
ausgestorbenen, unbekannten, hypothetischen Stammform, welche
wir als Stammpaarnasen oder Proselachier bezeichnen können, am
nächsten (Taf. VI, 11). Wir dürfen daher die Gruppe der Urfische
oder Selachier, in deren Rahmen diese Proselachier vermuthlich hin-
eingepaßt haben, als die Stammgruppe nicht allein für die Fischklasse,
sondern für die ganze Hauptklasse der Paarnasen betrachten.

Paarnaſen oder Amphirrhinen.

Alle Wirbelthiere, welche jetzt noch leben, mit Ausnahme der eben
betrachteten Monorrhinen und des Amphioxus, gehoͤren zu derjenigen
Hauptgruppe, welche wir als Paarnaſen (Amphirrhina) bezeich-
neten. Alle dieſe Thiere beſitzen (trotz der großen Mannichfaltigkeit
in ihrer ſonſtigen Bildung) eine aus zwei paarigen Seitenhaͤlften be-
ſtehende Naſe, ein ſympathiſches Nervennetz, drei Ringcanaͤle im Ge-
hoͤrorgan, eine Milz und eine Bauchſpeicheldruͤſe. Alle Paarnaſen
beſitzen ferner eine blaſenfoͤrmige Ausſtuͤlpung des Schlundes, welche
ſich bei den Fiſchen zur Schwimmblaſe, bei den uͤbrigen Paarnaſen
zur Lunge entwickelt hat. Endlich iſt urſpruͤnglich bei allen Paarnaſen
die Anlage von zwei paar Extremitaͤten oder Gliedmaßen vorhanden,
ein paar Vorderbeine oder Bruſtfloſſen, und ein paar Hinterbeine
oder Bauchfloſſen. Allerdings iſt bisweilen das eine Beinpaar (z. B.
bei den Aalen und Walfiſchen) oder beide Beinpaare (z. B. bei den
Caecilien und Schlangen) verkuͤmmert oder gaͤnzlich verloren gegangen;
aber ſelbſt in dieſen Faͤllen iſt wenigſtens die Spur ihrer urſpruͤngli-
chen Anlage in fruͤher Embryonalzeit zu finden, oder es bleiben un-
nuͤtze Reſte derſelben als rudimentaͤre Organe durch das ganze Leben
beſtehen (Vergl. oben S. 11).

Aus allen dieſen wichtigen Anzeichen koͤnnen wir mit voller Si-
cherheit ſchließen, daß ſaͤmmtliche Paarnaſen von einer einzigen ge-
meinſchaftlichen Stammform abſtammen, welche waͤhrend der Pri-
mordialzeit direct oder indirect ſich aus den Monorrhinen entwickelt
hatte. Dieſe Stammform muß die eben angefuͤhrten Organe, na-
mentlich auch die Anlage zur Schwimmblaſe und zu zwei Beinpaaren
oder Floſſenpaaren beſeſſen haben. Von allen jetzt lebenden Paar-
naſen ſtehen offenbar die niederſten Formen der Haifiſche dieſer laͤngſt
ausgeſtorbenen, unbekannten, hypothetiſchen Stammform, welche
wir als Stammpaarnaſen oder Proſelachier bezeichnen koͤnnen, am
naͤchſten (Taf. VI, 11). Wir duͤrfen daher die Gruppe der Urfiſche
oder Selachier, in deren Rahmen dieſe Proſelachier vermuthlich hin-
eingepaßt haben, als die Stammgruppe nicht allein fuͤr die Fiſchklaſſe,
ſondern fuͤr die ganze Hauptklaſſe der Paarnaſen betrachten.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0467" n="442"/>
        <fw place="top" type="header">Paarna&#x017F;en oder Amphirrhinen.</fw><lb/>
        <p>Alle Wirbelthiere, welche jetzt noch leben, mit Ausnahme der eben<lb/>
betrachteten Monorrhinen und des Amphioxus, geho&#x0364;ren zu derjenigen<lb/>
Hauptgruppe, welche wir als <hi rendition="#g">Paarna&#x017F;en</hi> <hi rendition="#aq">(Amphirrhina)</hi> bezeich-<lb/>
neten. Alle die&#x017F;e Thiere be&#x017F;itzen (trotz der großen Mannichfaltigkeit<lb/>
in ihrer &#x017F;on&#x017F;tigen Bildung) eine aus zwei paarigen Seitenha&#x0364;lften be-<lb/>
&#x017F;tehende Na&#x017F;e, ein &#x017F;ympathi&#x017F;ches Nervennetz, drei Ringcana&#x0364;le im Ge-<lb/>
ho&#x0364;rorgan, eine Milz und eine Bauch&#x017F;peicheldru&#x0364;&#x017F;e. Alle Paarna&#x017F;en<lb/>
be&#x017F;itzen ferner eine bla&#x017F;enfo&#x0364;rmige Aus&#x017F;tu&#x0364;lpung des Schlundes, welche<lb/>
&#x017F;ich bei den Fi&#x017F;chen zur Schwimmbla&#x017F;e, bei den u&#x0364;brigen Paarna&#x017F;en<lb/>
zur Lunge entwickelt hat. Endlich i&#x017F;t ur&#x017F;pru&#x0364;nglich bei allen Paarna&#x017F;en<lb/>
die Anlage von zwei paar Extremita&#x0364;ten oder Gliedmaßen vorhanden,<lb/>
ein paar Vorderbeine oder Bru&#x017F;tflo&#x017F;&#x017F;en, und ein paar Hinterbeine<lb/>
oder Bauchflo&#x017F;&#x017F;en. Allerdings i&#x017F;t bisweilen das eine Beinpaar (z. B.<lb/>
bei den Aalen und Walfi&#x017F;chen) oder beide Beinpaare (z. B. bei den<lb/>
Caecilien und Schlangen) verku&#x0364;mmert oder ga&#x0364;nzlich verloren gegangen;<lb/>
aber &#x017F;elb&#x017F;t in die&#x017F;en Fa&#x0364;llen i&#x017F;t wenig&#x017F;tens die Spur ihrer ur&#x017F;pru&#x0364;ngli-<lb/>
chen Anlage in fru&#x0364;her Embryonalzeit zu finden, oder es bleiben un-<lb/>
nu&#x0364;tze Re&#x017F;te der&#x017F;elben als rudimenta&#x0364;re Organe durch das ganze Leben<lb/>
be&#x017F;tehen (Vergl. oben S. 11).</p><lb/>
        <p>Aus allen die&#x017F;en wichtigen Anzeichen ko&#x0364;nnen wir mit voller Si-<lb/>
cherheit &#x017F;chließen, daß &#x017F;a&#x0364;mmtliche Paarna&#x017F;en von einer einzigen ge-<lb/>
mein&#x017F;chaftlichen Stammform ab&#x017F;tammen, welche wa&#x0364;hrend der Pri-<lb/>
mordialzeit direct oder indirect &#x017F;ich aus den Monorrhinen entwickelt<lb/>
hatte. Die&#x017F;e Stammform muß die eben angefu&#x0364;hrten Organe, na-<lb/>
mentlich auch die Anlage zur Schwimmbla&#x017F;e und zu zwei Beinpaaren<lb/>
oder Flo&#x017F;&#x017F;enpaaren be&#x017F;e&#x017F;&#x017F;en haben. Von allen jetzt lebenden Paar-<lb/>
na&#x017F;en &#x017F;tehen offenbar die nieder&#x017F;ten Formen der Haifi&#x017F;che die&#x017F;er la&#x0364;ng&#x017F;t<lb/>
ausge&#x017F;torbenen, unbekannten, hypotheti&#x017F;chen Stammform, welche<lb/>
wir als Stammpaarna&#x017F;en oder Pro&#x017F;elachier bezeichnen ko&#x0364;nnen, am<lb/>
na&#x0364;ch&#x017F;ten (Taf. <hi rendition="#aq">VI,</hi> 11). Wir du&#x0364;rfen daher die Gruppe der Urfi&#x017F;che<lb/>
oder Selachier, in deren Rahmen die&#x017F;e Pro&#x017F;elachier vermuthlich hin-<lb/>
eingepaßt haben, als die Stammgruppe nicht allein fu&#x0364;r die Fi&#x017F;chkla&#x017F;&#x017F;e,<lb/>
&#x017F;ondern fu&#x0364;r die ganze Hauptkla&#x017F;&#x017F;e der Paarna&#x017F;en betrachten.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[442/0467] Paarnaſen oder Amphirrhinen. Alle Wirbelthiere, welche jetzt noch leben, mit Ausnahme der eben betrachteten Monorrhinen und des Amphioxus, gehoͤren zu derjenigen Hauptgruppe, welche wir als Paarnaſen (Amphirrhina) bezeich- neten. Alle dieſe Thiere beſitzen (trotz der großen Mannichfaltigkeit in ihrer ſonſtigen Bildung) eine aus zwei paarigen Seitenhaͤlften be- ſtehende Naſe, ein ſympathiſches Nervennetz, drei Ringcanaͤle im Ge- hoͤrorgan, eine Milz und eine Bauchſpeicheldruͤſe. Alle Paarnaſen beſitzen ferner eine blaſenfoͤrmige Ausſtuͤlpung des Schlundes, welche ſich bei den Fiſchen zur Schwimmblaſe, bei den uͤbrigen Paarnaſen zur Lunge entwickelt hat. Endlich iſt urſpruͤnglich bei allen Paarnaſen die Anlage von zwei paar Extremitaͤten oder Gliedmaßen vorhanden, ein paar Vorderbeine oder Bruſtfloſſen, und ein paar Hinterbeine oder Bauchfloſſen. Allerdings iſt bisweilen das eine Beinpaar (z. B. bei den Aalen und Walfiſchen) oder beide Beinpaare (z. B. bei den Caecilien und Schlangen) verkuͤmmert oder gaͤnzlich verloren gegangen; aber ſelbſt in dieſen Faͤllen iſt wenigſtens die Spur ihrer urſpruͤngli- chen Anlage in fruͤher Embryonalzeit zu finden, oder es bleiben un- nuͤtze Reſte derſelben als rudimentaͤre Organe durch das ganze Leben beſtehen (Vergl. oben S. 11). Aus allen dieſen wichtigen Anzeichen koͤnnen wir mit voller Si- cherheit ſchließen, daß ſaͤmmtliche Paarnaſen von einer einzigen ge- meinſchaftlichen Stammform abſtammen, welche waͤhrend der Pri- mordialzeit direct oder indirect ſich aus den Monorrhinen entwickelt hatte. Dieſe Stammform muß die eben angefuͤhrten Organe, na- mentlich auch die Anlage zur Schwimmblaſe und zu zwei Beinpaaren oder Floſſenpaaren beſeſſen haben. Von allen jetzt lebenden Paar- naſen ſtehen offenbar die niederſten Formen der Haifiſche dieſer laͤngſt ausgeſtorbenen, unbekannten, hypothetiſchen Stammform, welche wir als Stammpaarnaſen oder Proſelachier bezeichnen koͤnnen, am naͤchſten (Taf. VI, 11). Wir duͤrfen daher die Gruppe der Urfiſche oder Selachier, in deren Rahmen dieſe Proſelachier vermuthlich hin- eingepaßt haben, als die Stammgruppe nicht allein fuͤr die Fiſchklaſſe, ſondern fuͤr die ganze Hauptklaſſe der Paarnaſen betrachten.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/467
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 442. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/467>, abgerufen am 10.06.2024.