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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Erklärungsgründe der Descendenztheorie.
die nothwendige Folge wirkender Ursachen, welche in der chemischen
Zusammensetzung der Materie selbst liegen.

Man kann also im weitesten Umfang behaupten, und ich werde
diese Behauptung im Verlaufe meiner Vorträge rechtfertigen, daß die
Abstammungslehre wie sie durch Darwin ausgebildet wurde der erste
Versuch ist, die Gesammtheit aller organischen Naturerscheinungen auf
ein einziges Gesetz zurückzuführen, eine einzige wirkende Ursache für das
unendlich verwickelte Getriebe dieser ganzen reichen Erscheinungswelt
aufzufinden. Jn dieser Beziehung stellt sie sich ebenbürtig Newtons
Gravitationstheorie an die Seite.

Aber auch die Erklärungsgründe sind hier nicht minder einfach,
wie dort. Es sind nicht neue, bisher unbekannte Eigenschaften des
Stoffes, welche Darwin zur Erklärung dieser höchst verwickelten Er-
scheinungswelt herbeizieht; es sind nicht etwa Entdeckungen neuer
Verbindungsverhältnisse der Materien, oder neuer Organisations-
kräfte derselben; sondern es ist lediglich die außerordentlich geistvolle
Verbindung, die synthetische Zusammenfassung und denkende Verglei-
chung einer Anzahl längst bekannter Thatsachen, durch welche Dar-
win
das "heilige Räthsel" der lebendigen Formenwelt löst. Die erste
Rolle spielt dabei die Erwägung der Wechselbeziehungen, welche zwi-
schen zwei allgemeinen Eigenschaften der Organismen bestehen, den
Eigenschaften der Vererbung und der Anpassung. Lediglich
durch Erwägung des Wechselverhältnisses zwischen diesen beiden Lebens-
thätigkeiten oder physiologischen Funktionen der Organismen, sowie
ferner durch Erwägung der gegenseitigen Beziehungen, welche alle
an einem und demselben Ort zusammenlebenden Thiere und Pflanzen
nothwendig zu einander besitzen -- lediglich durch Würdigung dieser
einfachen Thatsachen, und durch die geistvolle Verbindung derselben
ist es Darwin möglich geworden, in denselben die wirkenden Ursa-
chen (causae efficientes) für die unendlich verwickelte Gestaltenwelt
der organischen Natur zu finden.

Wir sind nun verpflichtet, diese Theorie auf jeden Fall anzuneh-
men und so lange zu behaupten, bis sich eine bessere findet, die es un-

Erklaͤrungsgruͤnde der Deſcendenztheorie.
die nothwendige Folge wirkender Urſachen, welche in der chemiſchen
Zuſammenſetzung der Materie ſelbſt liegen.

Man kann alſo im weiteſten Umfang behaupten, und ich werde
dieſe Behauptung im Verlaufe meiner Vortraͤge rechtfertigen, daß die
Abſtammungslehre wie ſie durch Darwin ausgebildet wurde der erſte
Verſuch iſt, die Geſammtheit aller organiſchen Naturerſcheinungen auf
ein einziges Geſetz zuruͤckzufuͤhren, eine einzige wirkende Urſache fuͤr das
unendlich verwickelte Getriebe dieſer ganzen reichen Erſcheinungswelt
aufzufinden. Jn dieſer Beziehung ſtellt ſie ſich ebenbuͤrtig Newtons
Gravitationstheorie an die Seite.

Aber auch die Erklaͤrungsgruͤnde ſind hier nicht minder einfach,
wie dort. Es ſind nicht neue, bisher unbekannte Eigenſchaften des
Stoffes, welche Darwin zur Erklaͤrung dieſer hoͤchſt verwickelten Er-
ſcheinungswelt herbeizieht; es ſind nicht etwa Entdeckungen neuer
Verbindungsverhaͤltniſſe der Materien, oder neuer Organiſations-
kraͤfte derſelben; ſondern es iſt lediglich die außerordentlich geiſtvolle
Verbindung, die ſynthetiſche Zuſammenfaſſung und denkende Verglei-
chung einer Anzahl laͤngſt bekannter Thatſachen, durch welche Dar-
win
das „heilige Raͤthſel“ der lebendigen Formenwelt loͤſt. Die erſte
Rolle ſpielt dabei die Erwaͤgung der Wechſelbeziehungen, welche zwi-
ſchen zwei allgemeinen Eigenſchaften der Organismen beſtehen, den
Eigenſchaften der Vererbung und der Anpaſſung. Lediglich
durch Erwaͤgung des Wechſelverhaͤltniſſes zwiſchen dieſen beiden Lebens-
thaͤtigkeiten oder phyſiologiſchen Funktionen der Organismen, ſowie
ferner durch Erwaͤgung der gegenſeitigen Beziehungen, welche alle
an einem und demſelben Ort zuſammenlebenden Thiere und Pflanzen
nothwendig zu einander beſitzen — lediglich durch Wuͤrdigung dieſer
einfachen Thatſachen, und durch die geiſtvolle Verbindung derſelben
iſt es Darwin moͤglich geworden, in denſelben die wirkenden Urſa-
chen (causae efficientes) fuͤr die unendlich verwickelte Geſtaltenwelt
der organiſchen Natur zu finden.

Wir ſind nun verpflichtet, dieſe Theorie auf jeden Fall anzuneh-
men und ſo lange zu behaupten, bis ſich eine beſſere findet, die es un-

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[23/0044] Erklaͤrungsgruͤnde der Deſcendenztheorie. die nothwendige Folge wirkender Urſachen, welche in der chemiſchen Zuſammenſetzung der Materie ſelbſt liegen. Man kann alſo im weiteſten Umfang behaupten, und ich werde dieſe Behauptung im Verlaufe meiner Vortraͤge rechtfertigen, daß die Abſtammungslehre wie ſie durch Darwin ausgebildet wurde der erſte Verſuch iſt, die Geſammtheit aller organiſchen Naturerſcheinungen auf ein einziges Geſetz zuruͤckzufuͤhren, eine einzige wirkende Urſache fuͤr das unendlich verwickelte Getriebe dieſer ganzen reichen Erſcheinungswelt aufzufinden. Jn dieſer Beziehung ſtellt ſie ſich ebenbuͤrtig Newtons Gravitationstheorie an die Seite. Aber auch die Erklaͤrungsgruͤnde ſind hier nicht minder einfach, wie dort. Es ſind nicht neue, bisher unbekannte Eigenſchaften des Stoffes, welche Darwin zur Erklaͤrung dieſer hoͤchſt verwickelten Er- ſcheinungswelt herbeizieht; es ſind nicht etwa Entdeckungen neuer Verbindungsverhaͤltniſſe der Materien, oder neuer Organiſations- kraͤfte derſelben; ſondern es iſt lediglich die außerordentlich geiſtvolle Verbindung, die ſynthetiſche Zuſammenfaſſung und denkende Verglei- chung einer Anzahl laͤngſt bekannter Thatſachen, durch welche Dar- win das „heilige Raͤthſel“ der lebendigen Formenwelt loͤſt. Die erſte Rolle ſpielt dabei die Erwaͤgung der Wechſelbeziehungen, welche zwi- ſchen zwei allgemeinen Eigenſchaften der Organismen beſtehen, den Eigenſchaften der Vererbung und der Anpaſſung. Lediglich durch Erwaͤgung des Wechſelverhaͤltniſſes zwiſchen dieſen beiden Lebens- thaͤtigkeiten oder phyſiologiſchen Funktionen der Organismen, ſowie ferner durch Erwaͤgung der gegenſeitigen Beziehungen, welche alle an einem und demſelben Ort zuſammenlebenden Thiere und Pflanzen nothwendig zu einander beſitzen — lediglich durch Wuͤrdigung dieſer einfachen Thatſachen, und durch die geiſtvolle Verbindung derſelben iſt es Darwin moͤglich geworden, in denſelben die wirkenden Urſa- chen (causae efficientes) fuͤr die unendlich verwickelte Geſtaltenwelt der organiſchen Natur zu finden. Wir ſind nun verpflichtet, dieſe Theorie auf jeden Fall anzuneh- men und ſo lange zu behaupten, bis ſich eine beſſere findet, die es un-

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/44>, abgerufen am 24.11.2024.