Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

Gegensatz der beiden grundverschiedenen Weltanschauungen.
welcher zwei sehende Augen und zwei wohl entwickelte Beinpaare
besaß, so erklärt sich ganz einfach der verschiedene Grad der Verküm-
merung und Rückbildung dieser Organe bei solchen Nachkommen des-
selben, welche diese Theile nicht mehr gebrauchen konnten. Ebenso
erklärt sich vollständig der verschiedene Ausbildungsgrad der ursprüng-
lich (in der Blüthenknospe) angelegten fünf Staubfäden bei den La-
biaten, wenn wir annehmen, daß alle Pflanzen dieser Familie von
einem gemeinsamen, mit fünf Staubfäden ausgestatteten Stammva-
ter abstammen.

Jch habe Jhnen die Erscheinung der rudimentären Organe schon
jetzt etwas ausführlicher vorgeführt, weil dieselbe von der allergrößten
allgemeinen Bedeutung ist, und weil sie uns auf die großen, allge-
meinen, tiefliegenden Grundfragen der Philosophie und der Natur-
wissenschaft hinführt, für deren Lösung Darwin's Theorie nun-
mehr der unentbehrliche Leitstern geworden ist. Sobald wir nämlich,
dieser Theorie entsprechend, die ausschließliche Wirksamkeit physikalisch-
chemischer Ursachen ebenso in der lebenden (organischen) Körperwelt,
wie in der sogenannten leblosen (anorganischen) Natur anerkennen,
so räumen wir damit jener Weltanschauung die ausschließliche Herr-
schaft ein, welche man mit dem Namen der mechanischen bezeichnen
kann, und welche gegenübersteht der teleologischen Auffassung.
Wenn Sie alle Weltanschauungsformen der verschiedenen Völker und
Zeiten mit einander vergleichend zusammenstellen, können Sie dieselben
schließlich alle in zwei schroff gegenüberstehende Gruppen bringen:
eine causale oder mechanistische und eine teleologische oder
vitalistische.
Die letztere war in der Biologie bisher allgemein
herrschend. Man sah danach das Thierreich und das Pflanzenreich als
Produkte einer zweckmäßig wirksamen, schöpferischen Thätigkeit an.
Bei dem Anblick jedes Organismus schien sich zunächst unabweislich
die Ueberzeugung aufzudrängen, daß eine so künstliche Maschine, ein
so verwickelter Bewegungs-Apparat, wie es der Organismus ist, nur
hervorgebracht werden könne durch eine Thätigkeit, welche analog, ob-
wohl unendlich viel vollkommener ist, als die Thätigkeit des Menschen

Gegenſatz der beiden grundverſchiedenen Weltanſchauungen.
welcher zwei ſehende Augen und zwei wohl entwickelte Beinpaare
beſaß, ſo erklaͤrt ſich ganz einfach der verſchiedene Grad der Verkuͤm-
merung und Ruͤckbildung dieſer Organe bei ſolchen Nachkommen des-
ſelben, welche dieſe Theile nicht mehr gebrauchen konnten. Ebenſo
erklaͤrt ſich vollſtaͤndig der verſchiedene Ausbildungsgrad der urſpruͤng-
lich (in der Bluͤthenknospe) angelegten fuͤnf Staubfaͤden bei den La-
biaten, wenn wir annehmen, daß alle Pflanzen dieſer Familie von
einem gemeinſamen, mit fuͤnf Staubfaͤden ausgeſtatteten Stammva-
ter abſtammen.

Jch habe Jhnen die Erſcheinung der rudimentaͤren Organe ſchon
jetzt etwas ausfuͤhrlicher vorgefuͤhrt, weil dieſelbe von der allergroͤßten
allgemeinen Bedeutung iſt, und weil ſie uns auf die großen, allge-
meinen, tiefliegenden Grundfragen der Philoſophie und der Natur-
wiſſenſchaft hinfuͤhrt, fuͤr deren Loͤſung Darwin’s Theorie nun-
mehr der unentbehrliche Leitſtern geworden iſt. Sobald wir naͤmlich,
dieſer Theorie entſprechend, die ausſchließliche Wirkſamkeit phyſikaliſch-
chemiſcher Urſachen ebenſo in der lebenden (organiſchen) Koͤrperwelt,
wie in der ſogenannten lebloſen (anorganiſchen) Natur anerkennen,
ſo raͤumen wir damit jener Weltanſchauung die ausſchließliche Herr-
ſchaft ein, welche man mit dem Namen der mechaniſchen bezeichnen
kann, und welche gegenuͤberſteht der teleologiſchen Auffaſſung.
Wenn Sie alle Weltanſchauungsformen der verſchiedenen Voͤlker und
Zeiten mit einander vergleichend zuſammenſtellen, koͤnnen Sie dieſelben
ſchließlich alle in zwei ſchroff gegenuͤberſtehende Gruppen bringen:
eine cauſale oder mechaniſtiſche und eine teleologiſche oder
vitaliſtiſche.
Die letztere war in der Biologie bisher allgemein
herrſchend. Man ſah danach das Thierreich und das Pflanzenreich als
Produkte einer zweckmaͤßig wirkſamen, ſchoͤpferiſchen Thaͤtigkeit an.
Bei dem Anblick jedes Organismus ſchien ſich zunaͤchſt unabweislich
die Ueberzeugung aufzudraͤngen, daß eine ſo kuͤnſtliche Maſchine, ein
ſo verwickelter Bewegungs-Apparat, wie es der Organismus iſt, nur
hervorgebracht werden koͤnne durch eine Thaͤtigkeit, welche analog, ob-
wohl unendlich viel vollkommener iſt, als die Thaͤtigkeit des Menſchen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0035" n="14"/><fw place="top" type="header">Gegen&#x017F;atz der beiden grundver&#x017F;chiedenen Weltan&#x017F;chauungen.</fw><lb/>
welcher zwei &#x017F;ehende Augen und zwei wohl entwickelte Beinpaare<lb/>
be&#x017F;aß, &#x017F;o erkla&#x0364;rt &#x017F;ich ganz einfach der ver&#x017F;chiedene Grad der Verku&#x0364;m-<lb/>
merung und Ru&#x0364;ckbildung die&#x017F;er Organe bei &#x017F;olchen Nachkommen des-<lb/>
&#x017F;elben, welche die&#x017F;e Theile nicht mehr gebrauchen konnten. Eben&#x017F;o<lb/>
erkla&#x0364;rt &#x017F;ich voll&#x017F;ta&#x0364;ndig der ver&#x017F;chiedene Ausbildungsgrad der ur&#x017F;pru&#x0364;ng-<lb/>
lich (in der Blu&#x0364;thenknospe) angelegten fu&#x0364;nf Staubfa&#x0364;den bei den La-<lb/>
biaten, wenn wir annehmen, daß alle Pflanzen die&#x017F;er Familie von<lb/>
einem gemein&#x017F;amen, mit fu&#x0364;nf Staubfa&#x0364;den ausge&#x017F;tatteten Stammva-<lb/>
ter ab&#x017F;tammen.</p><lb/>
        <p>Jch habe Jhnen die Er&#x017F;cheinung der rudimenta&#x0364;ren Organe &#x017F;chon<lb/>
jetzt etwas ausfu&#x0364;hrlicher vorgefu&#x0364;hrt, weil die&#x017F;elbe von der allergro&#x0364;ßten<lb/>
allgemeinen Bedeutung i&#x017F;t, und weil &#x017F;ie uns auf die großen, allge-<lb/>
meinen, tiefliegenden Grundfragen der Philo&#x017F;ophie und der Natur-<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft hinfu&#x0364;hrt, fu&#x0364;r deren Lo&#x0364;&#x017F;ung <hi rendition="#g">Darwin&#x2019;s</hi> Theorie nun-<lb/>
mehr der unentbehrliche Leit&#x017F;tern geworden i&#x017F;t. Sobald wir na&#x0364;mlich,<lb/>
die&#x017F;er Theorie ent&#x017F;prechend, die aus&#x017F;chließliche Wirk&#x017F;amkeit phy&#x017F;ikali&#x017F;ch-<lb/>
chemi&#x017F;cher Ur&#x017F;achen eben&#x017F;o in der lebenden (organi&#x017F;chen) Ko&#x0364;rperwelt,<lb/>
wie in der &#x017F;ogenannten leblo&#x017F;en (anorgani&#x017F;chen) Natur anerkennen,<lb/>
&#x017F;o ra&#x0364;umen wir damit jener Weltan&#x017F;chauung die aus&#x017F;chließliche Herr-<lb/>
&#x017F;chaft ein, welche man mit dem Namen der <hi rendition="#g">mechani&#x017F;chen</hi> bezeichnen<lb/>
kann, und welche gegenu&#x0364;ber&#x017F;teht der <hi rendition="#g">teleologi&#x017F;chen</hi> Auffa&#x017F;&#x017F;ung.<lb/>
Wenn Sie alle Weltan&#x017F;chauungsformen der ver&#x017F;chiedenen Vo&#x0364;lker und<lb/>
Zeiten mit einander vergleichend zu&#x017F;ammen&#x017F;tellen, ko&#x0364;nnen Sie die&#x017F;elben<lb/>
&#x017F;chließlich alle in zwei &#x017F;chroff gegenu&#x0364;ber&#x017F;tehende Gruppen bringen:<lb/>
eine <hi rendition="#g">cau&#x017F;ale oder mechani&#x017F;ti&#x017F;che</hi> und eine <hi rendition="#g">teleologi&#x017F;che oder<lb/>
vitali&#x017F;ti&#x017F;che.</hi> Die letztere war in der Biologie bisher allgemein<lb/>
herr&#x017F;chend. Man &#x017F;ah danach das Thierreich und das Pflanzenreich als<lb/>
Produkte einer zweckma&#x0364;ßig wirk&#x017F;amen, &#x017F;cho&#x0364;pferi&#x017F;chen Tha&#x0364;tigkeit an.<lb/>
Bei dem Anblick jedes Organismus &#x017F;chien &#x017F;ich zuna&#x0364;ch&#x017F;t unabweislich<lb/>
die Ueberzeugung aufzudra&#x0364;ngen, daß eine &#x017F;o ku&#x0364;n&#x017F;tliche Ma&#x017F;chine, ein<lb/>
&#x017F;o verwickelter Bewegungs-Apparat, wie es der Organismus i&#x017F;t, nur<lb/>
hervorgebracht werden ko&#x0364;nne durch eine Tha&#x0364;tigkeit, welche analog, ob-<lb/>
wohl unendlich viel vollkommener i&#x017F;t, als die Tha&#x0364;tigkeit des Men&#x017F;chen<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[14/0035] Gegenſatz der beiden grundverſchiedenen Weltanſchauungen. welcher zwei ſehende Augen und zwei wohl entwickelte Beinpaare beſaß, ſo erklaͤrt ſich ganz einfach der verſchiedene Grad der Verkuͤm- merung und Ruͤckbildung dieſer Organe bei ſolchen Nachkommen des- ſelben, welche dieſe Theile nicht mehr gebrauchen konnten. Ebenſo erklaͤrt ſich vollſtaͤndig der verſchiedene Ausbildungsgrad der urſpruͤng- lich (in der Bluͤthenknospe) angelegten fuͤnf Staubfaͤden bei den La- biaten, wenn wir annehmen, daß alle Pflanzen dieſer Familie von einem gemeinſamen, mit fuͤnf Staubfaͤden ausgeſtatteten Stammva- ter abſtammen. Jch habe Jhnen die Erſcheinung der rudimentaͤren Organe ſchon jetzt etwas ausfuͤhrlicher vorgefuͤhrt, weil dieſelbe von der allergroͤßten allgemeinen Bedeutung iſt, und weil ſie uns auf die großen, allge- meinen, tiefliegenden Grundfragen der Philoſophie und der Natur- wiſſenſchaft hinfuͤhrt, fuͤr deren Loͤſung Darwin’s Theorie nun- mehr der unentbehrliche Leitſtern geworden iſt. Sobald wir naͤmlich, dieſer Theorie entſprechend, die ausſchließliche Wirkſamkeit phyſikaliſch- chemiſcher Urſachen ebenſo in der lebenden (organiſchen) Koͤrperwelt, wie in der ſogenannten lebloſen (anorganiſchen) Natur anerkennen, ſo raͤumen wir damit jener Weltanſchauung die ausſchließliche Herr- ſchaft ein, welche man mit dem Namen der mechaniſchen bezeichnen kann, und welche gegenuͤberſteht der teleologiſchen Auffaſſung. Wenn Sie alle Weltanſchauungsformen der verſchiedenen Voͤlker und Zeiten mit einander vergleichend zuſammenſtellen, koͤnnen Sie dieſelben ſchließlich alle in zwei ſchroff gegenuͤberſtehende Gruppen bringen: eine cauſale oder mechaniſtiſche und eine teleologiſche oder vitaliſtiſche. Die letztere war in der Biologie bisher allgemein herrſchend. Man ſah danach das Thierreich und das Pflanzenreich als Produkte einer zweckmaͤßig wirkſamen, ſchoͤpferiſchen Thaͤtigkeit an. Bei dem Anblick jedes Organismus ſchien ſich zunaͤchſt unabweislich die Ueberzeugung aufzudraͤngen, daß eine ſo kuͤnſtliche Maſchine, ein ſo verwickelter Bewegungs-Apparat, wie es der Organismus iſt, nur hervorgebracht werden koͤnne durch eine Thaͤtigkeit, welche analog, ob- wohl unendlich viel vollkommener iſt, als die Thaͤtigkeit des Menſchen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/35
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/35>, abgerufen am 24.11.2024.