Zweigen des Stammbaums, jede engere und tiefer stehende Kategorie (z. B. Gattung, Art) nur eine kleinere und schwächere Gruppe von Aestchen. Nur wenn wir in dieser Weise das natürliche System als Stammbaum betrachten, können wir den wahren Werth desselben er- kennen. (Gen. Morph. II., S. XVII, 397).
Jndem wir an dieser genealogischen Auffassung des organischen Systems, welcher ohne Zweifel allein die Zukunft gehört, festhalten, können wir uns jetzt zu einer der wesentlichsten, aber auch schwierigsten Aufgaben der "natürlichen Schöpfungsgeschichte" wenden, nämlich zur wirklichen Construction der organischen Stammbäume. Lassen Sie uns sehen, wie weit wir vielleicht schon jetzt im Stande sind, alle verschiedenen organischen Formen als die divergenten Nachkommen einer einzigen oder einiger wenigen gemeinschaftlichen Stammformen nachzuweisen. Wie können wir uns aber den wirklichen Stammbaum der thierischen und pflanzlichen Formengruppen aus den dürftigen und fragmentarischen bis jetzt darüber gewonnenen Erfahrungen construi- ren? Die Antwort hierauf liegt schon zum Theil in demjenigen, was wir früher über den Parallelismus der drei Entwickelungsreihen be- merkt haben, über den wichtigen ursächlichen Zusammenhang, welcher die paläontologische Entwickelung der ganzen organischen Stämme mit der embryologischen Entwickelung der Jndividuen und mit der systema- tischen Entwickelung der Gruppenstufen verbindet.
Zunächst werden wir uns zur Lösung dieser schwierigen Aufgabe an die Phylogenie oder die paläontologische Entwicke- lungsgeschichte zu wenden haben. Denn wenn wirklich die Descendenztheorie wahr ist, wenn wirklich die versteinerten Reste der vormals lebenden Thiere und Pflanzen von den ausgestorbenen Ur- ahnen und Vorfahren der jetzigen Organismen herrühren, so müßte uns eigentlich ohne Weiteres die Kenntniß und Vergleichung der Ver- steinerungen den Stammbaum der Organismen aufdecken. So einfach und einleuchtend nach dem theoretisch entwickelten Princip Jhnen dies erscheinen wird, so außerordentlich schwierig und verwickelt gestaltet sich die Aufgabe, wenn man sie wirklich in Angriff nimmt. Jhre
Palaͤontologiſche Urkunden des Stammbaumes.
Zweigen des Stammbaums, jede engere und tiefer ſtehende Kategorie (z. B. Gattung, Art) nur eine kleinere und ſchwaͤchere Gruppe von Aeſtchen. Nur wenn wir in dieſer Weiſe das natuͤrliche Syſtem als Stammbaum betrachten, koͤnnen wir den wahren Werth deſſelben er- kennen. (Gen. Morph. II., S. XVII, 397).
Jndem wir an dieſer genealogiſchen Auffaſſung des organiſchen Syſtems, welcher ohne Zweifel allein die Zukunft gehoͤrt, feſthalten, koͤnnen wir uns jetzt zu einer der weſentlichſten, aber auch ſchwierigſten Aufgaben der „natuͤrlichen Schoͤpfungsgeſchichte“ wenden, naͤmlich zur wirklichen Conſtruction der organiſchen Stammbaͤume. Laſſen Sie uns ſehen, wie weit wir vielleicht ſchon jetzt im Stande ſind, alle verſchiedenen organiſchen Formen als die divergenten Nachkommen einer einzigen oder einiger wenigen gemeinſchaftlichen Stammformen nachzuweiſen. Wie koͤnnen wir uns aber den wirklichen Stammbaum der thieriſchen und pflanzlichen Formengruppen aus den duͤrftigen und fragmentariſchen bis jetzt daruͤber gewonnenen Erfahrungen conſtrui- ren? Die Antwort hierauf liegt ſchon zum Theil in demjenigen, was wir fruͤher uͤber den Parallelismus der drei Entwickelungsreihen be- merkt haben, uͤber den wichtigen urſaͤchlichen Zuſammenhang, welcher die palaͤontologiſche Entwickelung der ganzen organiſchen Staͤmme mit der embryologiſchen Entwickelung der Jndividuen und mit der ſyſtema- tiſchen Entwickelung der Gruppenſtufen verbindet.
Zunaͤchſt werden wir uns zur Loͤſung dieſer ſchwierigen Aufgabe an die Phylogenie oder die palaͤontologiſche Entwicke- lungsgeſchichte zu wenden haben. Denn wenn wirklich die Deſcendenztheorie wahr iſt, wenn wirklich die verſteinerten Reſte der vormals lebenden Thiere und Pflanzen von den ausgeſtorbenen Ur- ahnen und Vorfahren der jetzigen Organismen herruͤhren, ſo muͤßte uns eigentlich ohne Weiteres die Kenntniß und Vergleichung der Ver- ſteinerungen den Stammbaum der Organismen aufdecken. So einfach und einleuchtend nach dem theoretiſch entwickelten Princip Jhnen dies erſcheinen wird, ſo außerordentlich ſchwierig und verwickelt geſtaltet ſich die Aufgabe, wenn man ſie wirklich in Angriff nimmt. Jhre
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0315"n="290"/><fwplace="top"type="header">Palaͤontologiſche Urkunden des Stammbaumes.</fw><lb/>
Zweigen des Stammbaums, jede engere und tiefer ſtehende Kategorie<lb/>
(z. B. Gattung, Art) nur eine kleinere und ſchwaͤchere Gruppe von<lb/>
Aeſtchen. Nur wenn wir in dieſer Weiſe das natuͤrliche Syſtem als<lb/>
Stammbaum betrachten, koͤnnen wir den wahren Werth deſſelben er-<lb/>
kennen. (Gen. Morph. <hirendition="#aq">II.,</hi> S. <hirendition="#aq">XVII,</hi> 397).</p><lb/><p>Jndem wir an dieſer genealogiſchen Auffaſſung des organiſchen<lb/>
Syſtems, welcher ohne Zweifel allein die Zukunft gehoͤrt, feſthalten,<lb/>
koͤnnen wir uns jetzt zu einer der weſentlichſten, aber auch ſchwierigſten<lb/>
Aufgaben der „natuͤrlichen Schoͤpfungsgeſchichte“ wenden, naͤmlich zur<lb/>
wirklichen Conſtruction der organiſchen Stammbaͤume. Laſſen Sie<lb/>
uns ſehen, wie weit wir vielleicht ſchon jetzt im Stande ſind, alle<lb/>
verſchiedenen organiſchen Formen als die divergenten Nachkommen<lb/>
einer einzigen oder einiger wenigen gemeinſchaftlichen Stammformen<lb/>
nachzuweiſen. Wie koͤnnen wir uns aber den wirklichen Stammbaum<lb/>
der thieriſchen und pflanzlichen Formengruppen aus den duͤrftigen und<lb/>
fragmentariſchen bis jetzt daruͤber gewonnenen Erfahrungen conſtrui-<lb/>
ren? Die Antwort hierauf liegt ſchon zum Theil in demjenigen, was<lb/>
wir fruͤher uͤber den Parallelismus der drei Entwickelungsreihen be-<lb/>
merkt haben, uͤber den wichtigen urſaͤchlichen Zuſammenhang, welcher<lb/>
die palaͤontologiſche Entwickelung der ganzen organiſchen Staͤmme mit<lb/>
der embryologiſchen Entwickelung der Jndividuen und mit der ſyſtema-<lb/>
tiſchen Entwickelung der Gruppenſtufen verbindet.</p><lb/><p>Zunaͤchſt werden wir uns zur Loͤſung dieſer ſchwierigen Aufgabe<lb/>
an die <hirendition="#g">Phylogenie</hi> oder die <hirendition="#g">palaͤontologiſche Entwicke-<lb/>
lungsgeſchichte</hi> zu wenden haben. Denn wenn wirklich die<lb/>
Deſcendenztheorie wahr iſt, wenn wirklich die verſteinerten Reſte der<lb/>
vormals lebenden Thiere und Pflanzen von den ausgeſtorbenen Ur-<lb/>
ahnen und Vorfahren der jetzigen Organismen herruͤhren, ſo muͤßte<lb/>
uns eigentlich ohne Weiteres die Kenntniß und Vergleichung der Ver-<lb/>ſteinerungen den Stammbaum der Organismen aufdecken. So einfach<lb/>
und einleuchtend nach dem theoretiſch entwickelten Princip Jhnen dies<lb/>
erſcheinen wird, ſo außerordentlich ſchwierig und verwickelt geſtaltet<lb/>ſich die Aufgabe, wenn man ſie wirklich in Angriff nimmt. Jhre<lb/></p></div></body></text></TEI>
[290/0315]
Palaͤontologiſche Urkunden des Stammbaumes.
Zweigen des Stammbaums, jede engere und tiefer ſtehende Kategorie
(z. B. Gattung, Art) nur eine kleinere und ſchwaͤchere Gruppe von
Aeſtchen. Nur wenn wir in dieſer Weiſe das natuͤrliche Syſtem als
Stammbaum betrachten, koͤnnen wir den wahren Werth deſſelben er-
kennen. (Gen. Morph. II., S. XVII, 397).
Jndem wir an dieſer genealogiſchen Auffaſſung des organiſchen
Syſtems, welcher ohne Zweifel allein die Zukunft gehoͤrt, feſthalten,
koͤnnen wir uns jetzt zu einer der weſentlichſten, aber auch ſchwierigſten
Aufgaben der „natuͤrlichen Schoͤpfungsgeſchichte“ wenden, naͤmlich zur
wirklichen Conſtruction der organiſchen Stammbaͤume. Laſſen Sie
uns ſehen, wie weit wir vielleicht ſchon jetzt im Stande ſind, alle
verſchiedenen organiſchen Formen als die divergenten Nachkommen
einer einzigen oder einiger wenigen gemeinſchaftlichen Stammformen
nachzuweiſen. Wie koͤnnen wir uns aber den wirklichen Stammbaum
der thieriſchen und pflanzlichen Formengruppen aus den duͤrftigen und
fragmentariſchen bis jetzt daruͤber gewonnenen Erfahrungen conſtrui-
ren? Die Antwort hierauf liegt ſchon zum Theil in demjenigen, was
wir fruͤher uͤber den Parallelismus der drei Entwickelungsreihen be-
merkt haben, uͤber den wichtigen urſaͤchlichen Zuſammenhang, welcher
die palaͤontologiſche Entwickelung der ganzen organiſchen Staͤmme mit
der embryologiſchen Entwickelung der Jndividuen und mit der ſyſtema-
tiſchen Entwickelung der Gruppenſtufen verbindet.
Zunaͤchſt werden wir uns zur Loͤſung dieſer ſchwierigen Aufgabe
an die Phylogenie oder die palaͤontologiſche Entwicke-
lungsgeſchichte zu wenden haben. Denn wenn wirklich die
Deſcendenztheorie wahr iſt, wenn wirklich die verſteinerten Reſte der
vormals lebenden Thiere und Pflanzen von den ausgeſtorbenen Ur-
ahnen und Vorfahren der jetzigen Organismen herruͤhren, ſo muͤßte
uns eigentlich ohne Weiteres die Kenntniß und Vergleichung der Ver-
ſteinerungen den Stammbaum der Organismen aufdecken. So einfach
und einleuchtend nach dem theoretiſch entwickelten Princip Jhnen dies
erſcheinen wird, ſo außerordentlich ſchwierig und verwickelt geſtaltet
ſich die Aufgabe, wenn man ſie wirklich in Angriff nimmt. Jhre
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 290. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/315>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.