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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Vergleichung des mehrzelligen Organismus mit einem Staate.

Die Vorgänge nun, durch welche aus so einfachem Baumaterial,
aus den drei einfachen, nur aus Zellen zusammengesetzten Keimblät-
tern, die verschiedenartigen und höchst verwickelt zusammengesetzten
Theile des reifen Wirbelthierkörpers entstehen, sind erstens wiederholte
Theilungen und dadurch Vermehrung der Zellen, zweitens Arbeits-
theilung oder Differenzirung dieser Zellen, und drittens Verbindung
der verschiedenartig ausgebildeten oder differenzirten Zellen zur Bil-
dung der verschiedenen Organe. So entsteht der stufenweise Fortschritt
oder die Vervollkommnung, welche in der Ausbildung des embryona-
len Leibes Schritt für Schritt zu verfolgen ist. Die einfachen Em-
bryonalzellen, welche den Wirbelthierkörper zusammensetzen wollen,
verhalten sich wie Bürger, welche einen Staat gründen wollen. Die
einen ergreifen diese, die anderen jene Thätigkeit, und bilden dieselbe
zum Besten des Ganzen aus. Durch diese Arbeitstheilung oder Diffe-
renzirung, und die damit im Zusammenhang stehende Vervollkomm-
nung (den organischen Fortschritt), wird es dem ganzen Staate mög-
lich, Leistungen zu vollziehen, welche dem einzelnen Jndividuum unmög-
lich wären. Der ganze Wirbelthierkörper, wie jeder andere mehr-
zellige Organismus, ist ein republikanischer Zellenstaat, und daher
kann derselbe organische Functionen vollziehen, welche die einzelne Zelle
als Einsiedler (z. B. eine Amoebe oder eine einzellige Pflanze) niemals
leisten könnte.

Es wird keinem vernünftigen Menschen einfallen, in den zweck-
mäßigen Einrichtungen, welche zum Wohle des Ganzen und der Ein-
zelnen in jedem menschlichen Staate getroffen sind, die zweckmäßige
Thätigkeit eines persönlichen überirdischen Schöpfers erkennen zu
wollen. Vielmehr weiß Jedermann, daß jene zweckmäßigen Orga-
nisationseinrichtungen des Staats die Folge von dem Zusammen-
wirken der einzelnen Bürger und ihrer Regierung, sowie von deren
Anpassung an die Existenzbedingungen der Außenwelt sind. Ganz
ebenso müssen wir aber auch den mehrzelligen Organismus beurthei-
len. Auch in diesem sind alle zweckmäßigen Einrichtungen lediglich
die natürliche und nothwendige Folge des Zusammenwirkens, der Dif-

Vergleichung des mehrzelligen Organismus mit einem Staate.

Die Vorgaͤnge nun, durch welche aus ſo einfachem Baumaterial,
aus den drei einfachen, nur aus Zellen zuſammengeſetzten Keimblaͤt-
tern, die verſchiedenartigen und hoͤchſt verwickelt zuſammengeſetzten
Theile des reifen Wirbelthierkoͤrpers entſtehen, ſind erſtens wiederholte
Theilungen und dadurch Vermehrung der Zellen, zweitens Arbeits-
theilung oder Differenzirung dieſer Zellen, und drittens Verbindung
der verſchiedenartig ausgebildeten oder differenzirten Zellen zur Bil-
dung der verſchiedenen Organe. So entſteht der ſtufenweiſe Fortſchritt
oder die Vervollkommnung, welche in der Ausbildung des embryona-
len Leibes Schritt fuͤr Schritt zu verfolgen iſt. Die einfachen Em-
bryonalzellen, welche den Wirbelthierkoͤrper zuſammenſetzen wollen,
verhalten ſich wie Buͤrger, welche einen Staat gruͤnden wollen. Die
einen ergreifen dieſe, die anderen jene Thaͤtigkeit, und bilden dieſelbe
zum Beſten des Ganzen aus. Durch dieſe Arbeitstheilung oder Diffe-
renzirung, und die damit im Zuſammenhang ſtehende Vervollkomm-
nung (den organiſchen Fortſchritt), wird es dem ganzen Staate moͤg-
lich, Leiſtungen zu vollziehen, welche dem einzelnen Jndividuum unmoͤg-
lich waͤren. Der ganze Wirbelthierkoͤrper, wie jeder andere mehr-
zellige Organismus, iſt ein republikaniſcher Zellenſtaat, und daher
kann derſelbe organiſche Functionen vollziehen, welche die einzelne Zelle
als Einſiedler (z. B. eine Amoebe oder eine einzellige Pflanze) niemals
leiſten koͤnnte.

Es wird keinem vernuͤnftigen Menſchen einfallen, in den zweck-
maͤßigen Einrichtungen, welche zum Wohle des Ganzen und der Ein-
zelnen in jedem menſchlichen Staate getroffen ſind, die zweckmaͤßige
Thaͤtigkeit eines perſoͤnlichen uͤberirdiſchen Schoͤpfers erkennen zu
wollen. Vielmehr weiß Jedermann, daß jene zweckmaͤßigen Orga-
niſationseinrichtungen des Staats die Folge von dem Zuſammen-
wirken der einzelnen Buͤrger und ihrer Regierung, ſowie von deren
Anpaſſung an die Exiſtenzbedingungen der Außenwelt ſind. Ganz
ebenſo muͤſſen wir aber auch den mehrzelligen Organismus beurthei-
len. Auch in dieſem ſind alle zweckmaͤßigen Einrichtungen lediglich
die natuͤrliche und nothwendige Folge des Zuſammenwirkens, der Dif-

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[246/0271] Vergleichung des mehrzelligen Organismus mit einem Staate. Die Vorgaͤnge nun, durch welche aus ſo einfachem Baumaterial, aus den drei einfachen, nur aus Zellen zuſammengeſetzten Keimblaͤt- tern, die verſchiedenartigen und hoͤchſt verwickelt zuſammengeſetzten Theile des reifen Wirbelthierkoͤrpers entſtehen, ſind erſtens wiederholte Theilungen und dadurch Vermehrung der Zellen, zweitens Arbeits- theilung oder Differenzirung dieſer Zellen, und drittens Verbindung der verſchiedenartig ausgebildeten oder differenzirten Zellen zur Bil- dung der verſchiedenen Organe. So entſteht der ſtufenweiſe Fortſchritt oder die Vervollkommnung, welche in der Ausbildung des embryona- len Leibes Schritt fuͤr Schritt zu verfolgen iſt. Die einfachen Em- bryonalzellen, welche den Wirbelthierkoͤrper zuſammenſetzen wollen, verhalten ſich wie Buͤrger, welche einen Staat gruͤnden wollen. Die einen ergreifen dieſe, die anderen jene Thaͤtigkeit, und bilden dieſelbe zum Beſten des Ganzen aus. Durch dieſe Arbeitstheilung oder Diffe- renzirung, und die damit im Zuſammenhang ſtehende Vervollkomm- nung (den organiſchen Fortſchritt), wird es dem ganzen Staate moͤg- lich, Leiſtungen zu vollziehen, welche dem einzelnen Jndividuum unmoͤg- lich waͤren. Der ganze Wirbelthierkoͤrper, wie jeder andere mehr- zellige Organismus, iſt ein republikaniſcher Zellenſtaat, und daher kann derſelbe organiſche Functionen vollziehen, welche die einzelne Zelle als Einſiedler (z. B. eine Amoebe oder eine einzellige Pflanze) niemals leiſten koͤnnte. Es wird keinem vernuͤnftigen Menſchen einfallen, in den zweck- maͤßigen Einrichtungen, welche zum Wohle des Ganzen und der Ein- zelnen in jedem menſchlichen Staate getroffen ſind, die zweckmaͤßige Thaͤtigkeit eines perſoͤnlichen uͤberirdiſchen Schoͤpfers erkennen zu wollen. Vielmehr weiß Jedermann, daß jene zweckmaͤßigen Orga- niſationseinrichtungen des Staats die Folge von dem Zuſammen- wirken der einzelnen Buͤrger und ihrer Regierung, ſowie von deren Anpaſſung an die Exiſtenzbedingungen der Außenwelt ſind. Ganz ebenſo muͤſſen wir aber auch den mehrzelligen Organismus beurthei- len. Auch in dieſem ſind alle zweckmaͤßigen Einrichtungen lediglich die natuͤrliche und nothwendige Folge des Zuſammenwirkens, der Dif-

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 246. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/271>, abgerufen am 24.11.2024.