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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Jndividnelle Entwickelungsgeschichte oder Ontogenie.
festgestellt. Aber gleichwie Lamarck's 1809 begründete Descendenz-
theorie ein halbes Jahrhundert hindurch schlummerte und erst 1859
durch Darwin zu neuem unsterblichem Leben erweckt wurde, so blieb
auch Wolff's Theorie der Epigenesis fast ein halbes Jahrhundert
hindurch unbekannt, und erst nachdem Oken 1806 seine Entwicke-
lungsgeschichte des Darmkanals veröffentlicht und Meckel 1812
Wolffs Arbeit über denselben Gegenstand in's Deutsche übersetzt hatte,
wurde Wolff's Theorie der Epigenesis allgemeiner bekannt, und
die Grundlage aller folgenden Untersuchungen über individuelle Ent-
wickelungsgeschichte. Das Studium der Ontogenesis nahm nun einen
mächtigen Aufschwung, und bald erschienen die klassischen Untersuchun-
gen der beiden Freunde Christian Pander (1817) und Carl
Ernst Bär
(1819). Jnsbesondere wurde durch Bär's epochema-
chende "Entwickelungsgeschichte der Thiere" 20) die Ontogenie der
Wirbelthiere in allen ihren wichtigsten Thatsachen durch so vortreffliche
Beobachtungen festgestellt, und durch so vorzügliche philosophische Re-
flexionen erläutert, daß sie für das Verständniß dieser wichtigsten Thier-
gruppe, zu welcher ja auch der Mensch gehört, die unentbehrliche
Grundlage wurde. Jene Thatsachen würden für sich allein schon
ausreichen, die Frage von der Stellung des Menschen in der Natur
und somit das höchste aller Probleme zu lösen. Betrachten Sie auf-
merksam und vergleichend die sechs Figuren, welche auf den nachste-
henden Tafeln (S. 240 b, c) abgebildet sind, und Sie werden erkennen,
daß man die philosophische Bedeutung der Embryologie nicht hoch
genug anschlagen kann.

Nun darf man wohl fragen: Was wissen unsere sogenannten
"gebildeten" Kreise, die auf die hohe Cultur des neunzehnten Jahr-
hunderts sich so Viel einbilden, von diesen wichtigsten biologischen
Thatsachen, von diesen unentbehrlichen Grundlagen für das Verständ-
niß ihres eigenen Organismus? Was wissen unsere speculativen Phi-
losophen und Theologen davon, welche durch reine Speculationen
oder durch göttliche Jnspirationen das Verständniß des menschlichen
Organismus gewinnen zu können meinen? Ja was wissen selbst die

Jndividnelle Entwickelungsgeſchichte oder Ontogenie.
feſtgeſtellt. Aber gleichwie Lamarck’s 1809 begruͤndete Deſcendenz-
theorie ein halbes Jahrhundert hindurch ſchlummerte und erſt 1859
durch Darwin zu neuem unſterblichem Leben erweckt wurde, ſo blieb
auch Wolff’s Theorie der Epigeneſis faſt ein halbes Jahrhundert
hindurch unbekannt, und erſt nachdem Oken 1806 ſeine Entwicke-
lungsgeſchichte des Darmkanals veroͤffentlicht und Meckel 1812
Wolffs Arbeit uͤber denſelben Gegenſtand in’s Deutſche uͤberſetzt hatte,
wurde Wolff’s Theorie der Epigeneſis allgemeiner bekannt, und
die Grundlage aller folgenden Unterſuchungen uͤber individuelle Ent-
wickelungsgeſchichte. Das Studium der Ontogeneſis nahm nun einen
maͤchtigen Aufſchwung, und bald erſchienen die klaſſiſchen Unterſuchun-
gen der beiden Freunde Chriſtian Pander (1817) und Carl
Ernſt Baͤr
(1819). Jnsbeſondere wurde durch Baͤr’s epochema-
chende „Entwickelungsgeſchichte der Thiere“ 20) die Ontogenie der
Wirbelthiere in allen ihren wichtigſten Thatſachen durch ſo vortreffliche
Beobachtungen feſtgeſtellt, und durch ſo vorzuͤgliche philoſophiſche Re-
flexionen erlaͤutert, daß ſie fuͤr das Verſtaͤndniß dieſer wichtigſten Thier-
gruppe, zu welcher ja auch der Menſch gehoͤrt, die unentbehrliche
Grundlage wurde. Jene Thatſachen wuͤrden fuͤr ſich allein ſchon
ausreichen, die Frage von der Stellung des Menſchen in der Natur
und ſomit das hoͤchſte aller Probleme zu loͤſen. Betrachten Sie auf-
merkſam und vergleichend die ſechs Figuren, welche auf den nachſte-
henden Tafeln (S. 240 b, c) abgebildet ſind, und Sie werden erkennen,
daß man die philoſophiſche Bedeutung der Embryologie nicht hoch
genug anſchlagen kann.

Nun darf man wohl fragen: Was wiſſen unſere ſogenannten
„gebildeten“ Kreiſe, die auf die hohe Cultur des neunzehnten Jahr-
hunderts ſich ſo Viel einbilden, von dieſen wichtigſten biologiſchen
Thatſachen, von dieſen unentbehrlichen Grundlagen fuͤr das Verſtaͤnd-
niß ihres eigenen Organismus? Was wiſſen unſere ſpeculativen Phi-
loſophen und Theologen davon, welche durch reine Speculationen
oder durch goͤttliche Jnſpirationen das Verſtaͤndniß des menſchlichen
Organismus gewinnen zu koͤnnen meinen? Ja was wiſſen ſelbſt die

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[239/0260] Jndividnelle Entwickelungsgeſchichte oder Ontogenie. feſtgeſtellt. Aber gleichwie Lamarck’s 1809 begruͤndete Deſcendenz- theorie ein halbes Jahrhundert hindurch ſchlummerte und erſt 1859 durch Darwin zu neuem unſterblichem Leben erweckt wurde, ſo blieb auch Wolff’s Theorie der Epigeneſis faſt ein halbes Jahrhundert hindurch unbekannt, und erſt nachdem Oken 1806 ſeine Entwicke- lungsgeſchichte des Darmkanals veroͤffentlicht und Meckel 1812 Wolffs Arbeit uͤber denſelben Gegenſtand in’s Deutſche uͤberſetzt hatte, wurde Wolff’s Theorie der Epigeneſis allgemeiner bekannt, und die Grundlage aller folgenden Unterſuchungen uͤber individuelle Ent- wickelungsgeſchichte. Das Studium der Ontogeneſis nahm nun einen maͤchtigen Aufſchwung, und bald erſchienen die klaſſiſchen Unterſuchun- gen der beiden Freunde Chriſtian Pander (1817) und Carl Ernſt Baͤr (1819). Jnsbeſondere wurde durch Baͤr’s epochema- chende „Entwickelungsgeſchichte der Thiere“ 20) die Ontogenie der Wirbelthiere in allen ihren wichtigſten Thatſachen durch ſo vortreffliche Beobachtungen feſtgeſtellt, und durch ſo vorzuͤgliche philoſophiſche Re- flexionen erlaͤutert, daß ſie fuͤr das Verſtaͤndniß dieſer wichtigſten Thier- gruppe, zu welcher ja auch der Menſch gehoͤrt, die unentbehrliche Grundlage wurde. Jene Thatſachen wuͤrden fuͤr ſich allein ſchon ausreichen, die Frage von der Stellung des Menſchen in der Natur und ſomit das hoͤchſte aller Probleme zu loͤſen. Betrachten Sie auf- merkſam und vergleichend die ſechs Figuren, welche auf den nachſte- henden Tafeln (S. 240 b, c) abgebildet ſind, und Sie werden erkennen, daß man die philoſophiſche Bedeutung der Embryologie nicht hoch genug anſchlagen kann. Nun darf man wohl fragen: Was wiſſen unſere ſogenannten „gebildeten“ Kreiſe, die auf die hohe Cultur des neunzehnten Jahr- hunderts ſich ſo Viel einbilden, von dieſen wichtigſten biologiſchen Thatſachen, von dieſen unentbehrlichen Grundlagen fuͤr das Verſtaͤnd- niß ihres eigenen Organismus? Was wiſſen unſere ſpeculativen Phi- loſophen und Theologen davon, welche durch reine Speculationen oder durch goͤttliche Jnſpirationen das Verſtaͤndniß des menſchlichen Organismus gewinnen zu koͤnnen meinen? Ja was wiſſen ſelbſt die

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/260>, abgerufen am 24.11.2024.