Als zweites oberstes Grundgesetz tritt uns in der Völkergeschichte das große Gesetz des Fortschritts oder der Vervollkommnung entgegen. Jm Großen und Ganzen ist die Geschichte der Menschheit die Ge- schichte ihrer fortschreitenden Entwickelung. Freilich kommen überall und zu jeder Zeit Rückschritte im Einzelnen vor, oder es werden schiefe Bahnen des Fortschritts eingeschlagen, welche nur einer einseitigen und äußerlichen Vervollkommnung entgegenführen, und dabei von dem höheren Ziele der inneren und werthvolleren Ver- vollkommnung sich mehr und mehr entfernen. Allein im Großen und Ganzen ist und bleibt die Entwickelungsbewegung der ganzen Mensch- heit eine fortschreitende, indem der Mensch sich immer weiter von sei- nen affenartigen Vorfahren entfernt und immer mehr seinen selbstge- steckten idealen Zielen nähert.
Wenn Sie nun erkennen wollen, durch welche Ursachen eigent- lich diese beiden großen Entwickelungsgesetze der Menschheit, das Di- vergenzgesetz und das Fortschrittsgesetz bedingt sind, so müssen Sie dieselben mit den entsprechenden Entwickelungsgesetzen der Thierheit vergleichen, und Sie werden bei tieferem Eingehen nothwendig zu dem Schlusse kommen, daß sowohl die Erscheinungen wie ihre Ur- sachen in beiden Fällen ganz dieselben sind. Ebenso in dem Entwicke- lungsgange der Menschenwelt wie in demjenigen der Thierwelt sind die beiden Grundgesetze der Differenzirung und Vervollkommnung le- diglich durch rein mechanische Ursachen bedingt, lediglich die nothwen- digen Folgen der natürlichen Züchtung im Kampf um's Dasein.
Vielleicht hat sich Jhnen bei der vorhergehenden Betrachtung die Frage aufgedrängt: "Sind nicht diese beiden Gesetze identisch? Jst nicht immer der Fortschritt nothwendig mit der Divergenz verbunden?" Diese Frage ist oft bejaht worden, und Carl Ernst Bär z. B., einer der größten Forscher im Gebiete der Entwickelungsgeschichte, hat als eines der obersten Gesetze in der Ontogenesis des Thierkörpers den Satz ausgesprochen: "Der Grad der Ausbildung (oder Vervollkomm- nung) besteht in der Stufe der Sonderung (oder Differenzirung) der Theile" 20). So richtig dieser Satz im Ganzen ist, so hat er dennoch
Fortſchritt in der Entwickelung der Menſchheit.
Als zweites oberſtes Grundgeſetz tritt uns in der Voͤlkergeſchichte das große Geſetz des Fortſchritts oder der Vervollkommnung entgegen. Jm Großen und Ganzen iſt die Geſchichte der Menſchheit die Ge- ſchichte ihrer fortſchreitenden Entwickelung. Freilich kommen uͤberall und zu jeder Zeit Ruͤckſchritte im Einzelnen vor, oder es werden ſchiefe Bahnen des Fortſchritts eingeſchlagen, welche nur einer einſeitigen und aͤußerlichen Vervollkommnung entgegenfuͤhren, und dabei von dem hoͤheren Ziele der inneren und werthvolleren Ver- vollkommnung ſich mehr und mehr entfernen. Allein im Großen und Ganzen iſt und bleibt die Entwickelungsbewegung der ganzen Menſch- heit eine fortſchreitende, indem der Menſch ſich immer weiter von ſei- nen affenartigen Vorfahren entfernt und immer mehr ſeinen ſelbſtge- ſteckten idealen Zielen naͤhert.
Wenn Sie nun erkennen wollen, durch welche Urſachen eigent- lich dieſe beiden großen Entwickelungsgeſetze der Menſchheit, das Di- vergenzgeſetz und das Fortſchrittsgeſetz bedingt ſind, ſo muͤſſen Sie dieſelben mit den entſprechenden Entwickelungsgeſetzen der Thierheit vergleichen, und Sie werden bei tieferem Eingehen nothwendig zu dem Schluſſe kommen, daß ſowohl die Erſcheinungen wie ihre Ur- ſachen in beiden Faͤllen ganz dieſelben ſind. Ebenſo in dem Entwicke- lungsgange der Menſchenwelt wie in demjenigen der Thierwelt ſind die beiden Grundgeſetze der Differenzirung und Vervollkommnung le- diglich durch rein mechaniſche Urſachen bedingt, lediglich die nothwen- digen Folgen der natuͤrlichen Zuͤchtung im Kampf um’s Daſein.
Vielleicht hat ſich Jhnen bei der vorhergehenden Betrachtung die Frage aufgedraͤngt: „Sind nicht dieſe beiden Geſetze identiſch? Jſt nicht immer der Fortſchritt nothwendig mit der Divergenz verbunden?“ Dieſe Frage iſt oft bejaht worden, und Carl Ernſt Baͤr z. B., einer der groͤßten Forſcher im Gebiete der Entwickelungsgeſchichte, hat als eines der oberſten Geſetze in der Ontogeneſis des Thierkoͤrpers den Satz ausgeſprochen: „Der Grad der Ausbildung (oder Vervollkomm- nung) beſteht in der Stufe der Sonderung (oder Differenzirung) der Theile“ 20). So richtig dieſer Satz im Ganzen iſt, ſo hat er dennoch
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Fortſchritt in der Entwickelung der Menſchheit.
Als zweites oberſtes Grundgeſetz tritt uns in der Voͤlkergeſchichte
das große Geſetz des Fortſchritts oder der Vervollkommnung entgegen.
Jm Großen und Ganzen iſt die Geſchichte der Menſchheit die Ge-
ſchichte ihrer fortſchreitenden Entwickelung. Freilich kommen
uͤberall und zu jeder Zeit Ruͤckſchritte im Einzelnen vor, oder es
werden ſchiefe Bahnen des Fortſchritts eingeſchlagen, welche nur
einer einſeitigen und aͤußerlichen Vervollkommnung entgegenfuͤhren,
und dabei von dem hoͤheren Ziele der inneren und werthvolleren Ver-
vollkommnung ſich mehr und mehr entfernen. Allein im Großen und
Ganzen iſt und bleibt die Entwickelungsbewegung der ganzen Menſch-
heit eine fortſchreitende, indem der Menſch ſich immer weiter von ſei-
nen affenartigen Vorfahren entfernt und immer mehr ſeinen ſelbſtge-
ſteckten idealen Zielen naͤhert.
Wenn Sie nun erkennen wollen, durch welche Urſachen eigent-
lich dieſe beiden großen Entwickelungsgeſetze der Menſchheit, das Di-
vergenzgeſetz und das Fortſchrittsgeſetz bedingt ſind, ſo muͤſſen Sie
dieſelben mit den entſprechenden Entwickelungsgeſetzen der Thierheit
vergleichen, und Sie werden bei tieferem Eingehen nothwendig zu
dem Schluſſe kommen, daß ſowohl die Erſcheinungen wie ihre Ur-
ſachen in beiden Faͤllen ganz dieſelben ſind. Ebenſo in dem Entwicke-
lungsgange der Menſchenwelt wie in demjenigen der Thierwelt ſind
die beiden Grundgeſetze der Differenzirung und Vervollkommnung le-
diglich durch rein mechaniſche Urſachen bedingt, lediglich die nothwen-
digen Folgen der natuͤrlichen Zuͤchtung im Kampf um’s Daſein.
Vielleicht hat ſich Jhnen bei der vorhergehenden Betrachtung die
Frage aufgedraͤngt: „Sind nicht dieſe beiden Geſetze identiſch? Jſt
nicht immer der Fortſchritt nothwendig mit der Divergenz verbunden?“
Dieſe Frage iſt oft bejaht worden, und Carl Ernſt Baͤr z. B.,
einer der groͤßten Forſcher im Gebiete der Entwickelungsgeſchichte, hat
als eines der oberſten Geſetze in der Ontogeneſis des Thierkoͤrpers den
Satz ausgeſprochen: „Der Grad der Ausbildung (oder Vervollkomm-
nung) beſteht in der Stufe der Sonderung (oder Differenzirung) der
Theile“ 20). So richtig dieſer Satz im Ganzen iſt, ſo hat er dennoch
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 229. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/250>, abgerufen am 24.11.2024.
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