Differenzirung in der Entwickelung der Menschheit.
Thiere und Pflanzen ihre Geltung haben, und hier wie dort in Wech- selwirkung mit einander stehen. Daher wirkt auch die natürliche Züch- tung durch den Kampf um's Dasein ebenso in der menschlichen Gesell- schaft, wie im Leben der Thiere und Pflanzen umgestaltend ein, und ruft hier wie dort immer neue Formen hervor. Ganz besonders wichtig ist diese Vergleichung der menschlichen und der thierischen Umbildungs- phänomene bei Betrachtung des Divergenzgesetzes und des Fortschritts- gesetzes, der beiden Grundgesetze, die wir am Ende des letzten Vor- trags als unmittelbare und nothwendige Folgen der natürlichen Züch- tung im Kampf um's Dasein nachgewiesen haben.
Ein vergleichender Ueberblick über die Völkergeschichte oder die sogenannte "Weltgeschichte" zeigt Jhnen zunächst als allgemeinstes Resultat eine beständig zunehmende Mannichfaltigkeit der menschlichen Thätigkeit, im einzelnen Menschenleben sowohl als im Familien- und Staatenleben. Diese Differenzirung oder Sonderung, diese stetig zunehmende Divergenz des menschlichen Charakters und der menschlichen Lebensform wird hervorgebracht durch die immer weiter gehende und tiefer greifende Arbeitstheilung der Jndividuen. Während die ältesten und niedrigsten Stufen der menschlichen Cultur uns überall nahezu dieselben rohen und einfachen Verhältnisse vor Augen führen, bemerken wir in jeder folgenden Periode der Geschichte eine größere Mannichfaltigkeit in Sitten, Gebräuchen und Einrich- tungen bei den verschiedenen Nationen. Die zunehmende Arbeits- theilung bedingt eine steigende Mannichfaltigkeit der Formen in jeder Beziehung. Das spricht sich selbst in der menschlichen Gesichtsbildung aus. Unter den niedersten Volksstämmen gleichen sich die meisten Jndividuen so sehr, daß die europäischen Reisenden dieselben gewöhn- lich gar nicht unterscheiden können. Mit zunehmender Cultur diffe- renzirt sich die Physiognomie der Jndividuen. Endlich bei den höchst entwickelten Culturvölkern, bei Engländern und Deutschen, geht die Divergenz der Gesichtsbildung bei allen stammverwandten Jndividuen so weit, daß wir nur selten in die Verlegenheit kommen, zwei Gesichter gänzlich mit einander zu verwechseln.
Differenzirung in der Entwickelung der Menſchheit.
Thiere und Pflanzen ihre Geltung haben, und hier wie dort in Wech- ſelwirkung mit einander ſtehen. Daher wirkt auch die natuͤrliche Zuͤch- tung durch den Kampf um’s Daſein ebenſo in der menſchlichen Geſell- ſchaft, wie im Leben der Thiere und Pflanzen umgeſtaltend ein, und ruft hier wie dort immer neue Formen hervor. Ganz beſonders wichtig iſt dieſe Vergleichung der menſchlichen und der thieriſchen Umbildungs- phaͤnomene bei Betrachtung des Divergenzgeſetzes und des Fortſchritts- geſetzes, der beiden Grundgeſetze, die wir am Ende des letzten Vor- trags als unmittelbare und nothwendige Folgen der natuͤrlichen Zuͤch- tung im Kampf um’s Daſein nachgewieſen haben.
Ein vergleichender Ueberblick uͤber die Voͤlkergeſchichte oder die ſogenannte „Weltgeſchichte“ zeigt Jhnen zunaͤchſt als allgemeinſtes Reſultat eine beſtaͤndig zunehmende Mannichfaltigkeit der menſchlichen Thaͤtigkeit, im einzelnen Menſchenleben ſowohl als im Familien- und Staatenleben. Dieſe Differenzirung oder Sonderung, dieſe ſtetig zunehmende Divergenz des menſchlichen Charakters und der menſchlichen Lebensform wird hervorgebracht durch die immer weiter gehende und tiefer greifende Arbeitstheilung der Jndividuen. Waͤhrend die aͤlteſten und niedrigſten Stufen der menſchlichen Cultur uns uͤberall nahezu dieſelben rohen und einfachen Verhaͤltniſſe vor Augen fuͤhren, bemerken wir in jeder folgenden Periode der Geſchichte eine groͤßere Mannichfaltigkeit in Sitten, Gebraͤuchen und Einrich- tungen bei den verſchiedenen Nationen. Die zunehmende Arbeits- theilung bedingt eine ſteigende Mannichfaltigkeit der Formen in jeder Beziehung. Das ſpricht ſich ſelbſt in der menſchlichen Geſichtsbildung aus. Unter den niederſten Volksſtaͤmmen gleichen ſich die meiſten Jndividuen ſo ſehr, daß die europaͤiſchen Reiſenden dieſelben gewoͤhn- lich gar nicht unterſcheiden koͤnnen. Mit zunehmender Cultur diffe- renzirt ſich die Phyſiognomie der Jndividuen. Endlich bei den hoͤchſt entwickelten Culturvoͤlkern, bei Englaͤndern und Deutſchen, geht die Divergenz der Geſichtsbildung bei allen ſtammverwandten Jndividuen ſo weit, daß wir nur ſelten in die Verlegenheit kommen, zwei Geſichter gaͤnzlich mit einander zu verwechſeln.
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0249"n="228"/><fwplace="top"type="header">Differenzirung in der Entwickelung der Menſchheit.</fw><lb/>
Thiere und Pflanzen ihre Geltung haben, und hier wie dort in Wech-<lb/>ſelwirkung mit einander ſtehen. Daher wirkt auch die natuͤrliche Zuͤch-<lb/>
tung durch den Kampf um’s Daſein ebenſo in der menſchlichen Geſell-<lb/>ſchaft, wie im Leben der Thiere und Pflanzen umgeſtaltend ein, und<lb/>
ruft hier wie dort immer neue Formen hervor. Ganz beſonders wichtig<lb/>
iſt dieſe Vergleichung der menſchlichen und der thieriſchen Umbildungs-<lb/>
phaͤnomene bei Betrachtung des Divergenzgeſetzes und des Fortſchritts-<lb/>
geſetzes, der beiden Grundgeſetze, die wir am Ende des letzten Vor-<lb/>
trags als unmittelbare und nothwendige Folgen der natuͤrlichen Zuͤch-<lb/>
tung im Kampf um’s Daſein nachgewieſen haben.</p><lb/><p>Ein vergleichender Ueberblick uͤber die Voͤlkergeſchichte oder die<lb/>ſogenannte „Weltgeſchichte“ zeigt Jhnen zunaͤchſt als allgemeinſtes<lb/>
Reſultat eine beſtaͤndig <hirendition="#g">zunehmende Mannichfaltigkeit</hi> der<lb/>
menſchlichen Thaͤtigkeit, im einzelnen Menſchenleben ſowohl als im<lb/>
Familien- und Staatenleben. Dieſe Differenzirung oder Sonderung,<lb/>
dieſe ſtetig zunehmende Divergenz des menſchlichen Charakters und<lb/>
der menſchlichen Lebensform wird hervorgebracht durch die immer<lb/>
weiter gehende und tiefer greifende Arbeitstheilung der Jndividuen.<lb/>
Waͤhrend die aͤlteſten und niedrigſten Stufen der menſchlichen Cultur<lb/>
uns uͤberall nahezu dieſelben rohen und einfachen Verhaͤltniſſe vor<lb/>
Augen fuͤhren, bemerken wir in jeder folgenden Periode der Geſchichte<lb/>
eine groͤßere Mannichfaltigkeit in Sitten, Gebraͤuchen und Einrich-<lb/>
tungen bei den verſchiedenen Nationen. Die zunehmende Arbeits-<lb/>
theilung bedingt eine ſteigende Mannichfaltigkeit der Formen in jeder<lb/>
Beziehung. Das ſpricht ſich ſelbſt in der menſchlichen Geſichtsbildung<lb/>
aus. Unter den niederſten Volksſtaͤmmen gleichen ſich die meiſten<lb/>
Jndividuen ſo ſehr, daß die europaͤiſchen Reiſenden dieſelben gewoͤhn-<lb/>
lich gar nicht unterſcheiden koͤnnen. Mit zunehmender Cultur diffe-<lb/>
renzirt ſich die Phyſiognomie der Jndividuen. Endlich bei den hoͤchſt<lb/>
entwickelten Culturvoͤlkern, bei Englaͤndern und Deutſchen, geht die<lb/>
Divergenz der Geſichtsbildung bei allen ſtammverwandten Jndividuen<lb/>ſo weit, daß wir nur ſelten in die Verlegenheit kommen, zwei Geſichter<lb/>
gaͤnzlich mit einander zu verwechſeln.</p><lb/></div></body></text></TEI>
[228/0249]
Differenzirung in der Entwickelung der Menſchheit.
Thiere und Pflanzen ihre Geltung haben, und hier wie dort in Wech-
ſelwirkung mit einander ſtehen. Daher wirkt auch die natuͤrliche Zuͤch-
tung durch den Kampf um’s Daſein ebenſo in der menſchlichen Geſell-
ſchaft, wie im Leben der Thiere und Pflanzen umgeſtaltend ein, und
ruft hier wie dort immer neue Formen hervor. Ganz beſonders wichtig
iſt dieſe Vergleichung der menſchlichen und der thieriſchen Umbildungs-
phaͤnomene bei Betrachtung des Divergenzgeſetzes und des Fortſchritts-
geſetzes, der beiden Grundgeſetze, die wir am Ende des letzten Vor-
trags als unmittelbare und nothwendige Folgen der natuͤrlichen Zuͤch-
tung im Kampf um’s Daſein nachgewieſen haben.
Ein vergleichender Ueberblick uͤber die Voͤlkergeſchichte oder die
ſogenannte „Weltgeſchichte“ zeigt Jhnen zunaͤchſt als allgemeinſtes
Reſultat eine beſtaͤndig zunehmende Mannichfaltigkeit der
menſchlichen Thaͤtigkeit, im einzelnen Menſchenleben ſowohl als im
Familien- und Staatenleben. Dieſe Differenzirung oder Sonderung,
dieſe ſtetig zunehmende Divergenz des menſchlichen Charakters und
der menſchlichen Lebensform wird hervorgebracht durch die immer
weiter gehende und tiefer greifende Arbeitstheilung der Jndividuen.
Waͤhrend die aͤlteſten und niedrigſten Stufen der menſchlichen Cultur
uns uͤberall nahezu dieſelben rohen und einfachen Verhaͤltniſſe vor
Augen fuͤhren, bemerken wir in jeder folgenden Periode der Geſchichte
eine groͤßere Mannichfaltigkeit in Sitten, Gebraͤuchen und Einrich-
tungen bei den verſchiedenen Nationen. Die zunehmende Arbeits-
theilung bedingt eine ſteigende Mannichfaltigkeit der Formen in jeder
Beziehung. Das ſpricht ſich ſelbſt in der menſchlichen Geſichtsbildung
aus. Unter den niederſten Volksſtaͤmmen gleichen ſich die meiſten
Jndividuen ſo ſehr, daß die europaͤiſchen Reiſenden dieſelben gewoͤhn-
lich gar nicht unterſcheiden koͤnnen. Mit zunehmender Cultur diffe-
renzirt ſich die Phyſiognomie der Jndividuen. Endlich bei den hoͤchſt
entwickelten Culturvoͤlkern, bei Englaͤndern und Deutſchen, geht die
Divergenz der Geſichtsbildung bei allen ſtammverwandten Jndividuen
ſo weit, daß wir nur ſelten in die Verlegenheit kommen, zwei Geſichter
gaͤnzlich mit einander zu verwechſeln.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/249>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.